Erich Kästner, „Saldo mortale“ als Gedicht der Neuen Sachlichkeit (Mat8175)

Worum es hier geht

Vorgestellt wird ein Gedicht von Erich Kästner mit dem Titel „Saldo mortale“.
Wir haben es zum Beispiel hier gefunden:
https://www.deutschelyrik.de/saldo-mortale.html

Es ist ein gutes Beispiel für die Lyrik in der Epoche der Neuen Sachlichkeit.
https://textaussage.de/schnell-durchblicken-die-epoche-der-neuen-sachlichkeit

Anmerkungen zum Titel

Der Titel „Saldo mortale“ erinnert einen natürlich sofort an „Salto mortale“.

Google Bard gibt dazu die folgende Auskunft – und wir schauen ja immer wieder gerne, was die Künstliche Intelligenz so hergibt. Wir verbinden sie aber mit MIA, der menschlichen Intelligenz in Aktion 😉 Das bedeutet, dass wir nur das aus der Erklärung herausziehen, was mit dem Gedicht etwas zu tun hat:

  • „Salto mortale ist ein italienischer Begriff, der sich wörtlich mit „tödlicher Sprung“ übersetzen lässt. In der Akrobatik bezeichnet er einen Sprung, bei dem der Akrobat sich mit dem Rücken zum Boden dreht und dabei die Beine über den Kopf schlägt. Der Salto mortale ist eine sehr anspruchsvolle Übung, die viel Geschick und Kraft erfordert. […]
  • Der Salto mortale ist eine sehr gefährliche Übung, wenn sie nicht richtig ausgeführt wird. Bei einem misslungenen Salto mortale kann es zu schweren Verletzungen kommen, z. B. zu Knochenbrüchen oder Gehirnerschütterungen.

Halten wir also fest: Eine sehr gefährliche Turnübung, die zu schweren Verletzungen führen kann – deshalb die Verbindung von Salto und „mortale“ = tödlich. Das ist natürlich eine Übertreibung, die aber die Gefährlichkeit betonen soll.

Nun zum Titel:

Kästner hat aus dem „Salto“ einen „Saldo“ gemacht.

Google Bard sagt dazu:

  • Der Begriff Saldo hat in der Buchführung und im allgemeinen Sprachgebrauch verschiedene Bedeutungen.
  • In der Buchführung bezeichnet der Saldo den Differenzbetrag zwischen der Soll- und Habenseite eines Kontos. Er kann positiv oder negativ sein. Ein positiver Saldo bedeutet, dass auf dem Konto mehr Guthaben als Verbindlichkeiten vorhanden sind. Ein negativer Saldo bedeutet, dass auf dem Konto mehr Verbindlichkeiten als Guthaben vorhanden sind.
  • Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff Saldo oft synonym für Kontostand verwendet. Er kann aber auch einen Differenzbetrag zwischen zwei Werten bezeichnen, z. B. zwischen Einnahmen und Ausgaben.

Auswertung:

Das heißt im Hinblick auf die Überschrift, dass es hier um einen sehr gefährlichen, vielleicht sogar tödlichen „Saldo“, also Kontostand oder Ergebnis geht.

Anmerkungen zu Strophe 1

  • Das Gedicht beginnt wie eine bestimmte Art von Geschichten, die meistens auf etwas Besonderes hinauslaufen, zum Beispiel eine Moral oder etwas Ähnliches verdeutlichen sollen.
  • Hier geht es darum, dass jemand, der einen Selbstmordversuch unternommen hat (z.B. mit Schlaftabletten) gerettet wird (aus der normalen Sicht auf so etwas).
  • Man ist als Leser jetzt gespannt, wie dieser Mann sich dazu in einem Brief äußern wird.
  • Mittel:
    • Sprachliche Mittel:
      • „unternehmen“ = Metapher aus dem Bereich der Wirtschaft übertragen auf diesen sehr persönlichen, gesundheitlichen Bereich = Wirkung: Es wird deutlich, dass man richtig was „unternehmen“ muss, um ein sehr privates Problem zu lösen.
      • „retten“ und „schlafen“ = Gegensatz, der deutlich macht, dass der Mann seinen Frieden hat und gar nicht gerettet werden will.
    • Literarische Mittel:
      • Einfall des Dichters, aus einer potentiellen „kuriosen“ Zeitungsnotiz ein Gedicht zu machen.
      • Doppeldeutigkeit von „wieder zu sich kommen“: Da geht es gar nicht nur um das Wachwerden, sondern um das Begreifen, was ihm da eben passiert ist – nämlich das Ende des Traums vom Hinübergehen – der Mann will gar nicht mehr „bei sich sein“ in einem normalen Sinne. Denn da hängen die ganzen Probleme dran.
      • Dazu die Idee des „Cliffhangers“ am Ende. So ist man gespannt auf den Inhalt des Briefes
      • Insgesamt ein Ton, wie er zu Eugen Roth passt – entspricht der scheinbar kühlen Sachlichkeit dieser Epoche, während es eigentlich um Verzweiflung und Zorn geht.

Anmerkungen zu Strophe 2

  • Der Brief beginnt mit einer Beschimpfung. Offensichtlich ist der Mann nicht mit seiner „Rettung“ einverstanden, betrachtet sie nicht als solche.
  • Die Beschreibung in den Zeilen 6-8 bezieht sich wohl auf die Wiederbelebungsübungen.

Das Ergebnis wird zusammengefasst in dem bedauernden Rückblick: „Ich war schon fast hinüber, sapperlot.“
Dazu Google Bard:
„Das Wort „sapperlot“ ist ein Ausruf des Erstaunens, der Überraschung, der Begeisterung, aber auch der Verwünschung oder des Zorns.“
Der Mann sieht seine Aktion also als eine Art Befreiungsaktion, einen Sprung in eine bessere Wirklichkeit und ist zornig darüber, dass man ihn zurückgeholt hat.

  • Mittel:
    • Sprachliche Mittel:
      • Schimpf-Metapher in der Anrede: „Esel“
      • Beschönigung (Euphemismus): „hinüber“ sein für tot sein.
    • Literarische Mittel:
      • Verschiebung von „gerettet“ zu „aufgeweckt“
      • Umschreibung der Wiederbelebungsmaßnahmen mit läppischen („geturnt) und fast schon gewalttätigen („krummgedrückt“ „langgestreckt“) Begriffen

Anmerkungen zu Strophe 3

  • Es folgen vier Behauptungen, die alle deutlich machen, dass seine „Retter“ Vertreter eines gesellschaftlichen Systems sind, das ihm nur etwas weggenommen, aber nie etwas gegeben hat.
  • Dabei geht es offensichtlich um fundamentale Dinge, die man für ein anständiges Leben braucht.
  • Mittel:
    • Sprachliche Mittel:
      • Dreimalig identischer Sachanfang – hat etwas Verstärkendes, fast Einhämmerndes
      • Die Unterbrechung dieser Reihung in Zeile 12 ist natürlich auch ein Mittel, das Aufmerksamkeit erregt.
      • Verwendung des Wortes „stehlen“ für jemanden entlassen ist natürlich ein Mittel, das den Vorgang ins Kriminelle verschiebt.
    • Literarische Mittel:
      • Die Idee dieser Aufzählung ist natürlich ein literarisches Mittel. Man sieht, dass ein Mittel durchaus sowohl als auch sein kann.

Anmerkungen zu Strophe 4

  • In der dritten Strophe werden die Erfahrungen des Mannes als Arbeitsuchender geschildert.
  • Er hat nicht nur keine Hilfe bekommen, sondern wurde auch noch schlecht angesehen, als sei es ein Vergehen oder gar Verbrechen, arbeitslos zu sein.
  • Wenn man andere Gedichte von Kästner kennt, dann weiß man, dass er häufig Situationen in der Zeit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 beschreibt. Die war vor allem mit Massenarbeitslosigkeit verbunden.
  • Mittel:
    • Sprachliche Mittel:
      • Zeile 14: Stilmittel der Übertreibung
      • Außerdem Verschiebung: Es war ein indirektes Herumschicken, kein reales, da der Mann sicher selbst gehen wollte, aber so wird die Verursacher- oder Täterzuweisung deutlicher.
      • Zeile 15: Gegensatz
        Lakonische Kürze = wenn etwas besonders knapp formuliert wird.
        Vergleiche: Ich kam, ich sah, ich siegte.
        Oder jemand sagt zu seinem Partner:

        1. Letzte Woche: 10 Minuten (zu spät)
        2. Diese Woche: 20 Minuten (zu spät)
        3. Jetzt: Punkt, Schluss, Aus (mit der Beziehung)
      • „kalt und böse“
        Verstärkung durch Wiederholung mit Verschiebung ins Böse hinein
      • Vergleich: „wie man mit Dieben spricht“
    • Literarische Mittel:
      • Mehrfach verwendete Verschiebung dessen, was real abläuft, in den Bereich des Kriminellen (Zeile 12)
        Zugleich natürlich ein raffinierter Wechsel des Bezugs:
        oben waren die anderen die Kriminellen, dann kann man hier auch davon ausgehen, dass dieser Vergleich mit Dieben falsch ist.

Anmerkungen zu Strophe 5

  • In der fünften Strophe geht es dann um negative private Erfahrungen bei Krankheit und in seinem Familienleben.
  • Die letzte Zeile der Strophe bezieht sich wohl darauf, dass manche Ehefrau versucht hat, dem Elend zu Hause dadurch zu entkommen, dass sie sich mit einem Mann eingelassen hat, der finanziell mehr zu bieten hatte.
  • Etwas allgemeiner ist die Verszeile 19. Sie stellt nämlich einen Bezug her zwischen den ganzen Klagen und der aus Sicht des Mannes falschen „Rettung“.
  • Mittel:
    • Sprachliche Mittel:
      • Steigerung von Zeile 18 auf 19
      • Versteckte Andeutung auf den Grund für die Flucht in den Tod, zugleich raffinierter Vergleich und Gegensatz:
        Als es drauf ankam, habt ihr euch nicht beeilt, wenn es aber darum geht, mich hier als Menschen auf der Erde weiter misshandeln zu können, dann seid ihr schnell.
      • Dann metaphorische Umschreibung der Tatsache, dass seine Frau ihn verlassen hat.
      • Zugleich steckt dadrin, dass sie sich noch mehr als billig dabei verkaufen musste, vielleicht sogar Würde und Ehre verloren hat.
    • Literarische Mittel:
      • Die genannten sprachlichen Mittel bilden in der Summe auch sehr wirkungsvolle literarische Einfälle.
      • Am wirkungsvollsten die Frage des Beeilens, da muss man nämlich erst mal nachdenken.

Anmerkungen zu Strophe 6

  • In dieser fünften Strophe geht der Mann in seinem Brief noch einmal auf sein Problem ein und
  • bringt es auf den Punkt, dass in seinem Falle „aus Lebensrettung Mord“ geworden ist.
  • Mittel:
    • Sprachliche Mittel:
      • Zeile 22: Verbindung einer Tat mit einer kritischen Infragestellung
      • Zeile 23: Wieder die lakonische Formulierung eines Gegensatzes.
      • Dann der absolute Höhepunkt, nämlich die Bezeichnung einer Lebensrettung (allgemeine Ansicht) als „Mord“ = persönliche Sicht des Mannes, sicher schockierend für die „Lebensretter“
    • Literarische Mittel:
      • Auch hier wieder insgesamt eine fast sentenartige (sprichwörtliche Kürze) des Gegensatzes zwischen den zwei Sichtweisen auf den Vorfall.
      • Aus einer Infragestellung wird die brutale Schuldzuweisung.

Anmerkungen zu Strophe 7

  • Die sechste Strophe macht deutlich, dass der Mann keine Lust hat auf die Fortsetzung der Quälerei (so wie er das sieht) in der Zeit vor seinem Selbstmordversuch.
  • Das wird vor allem deutlich an den verschiedenen Varianten der Beschreibung seiner Einschätzung der Lage in den Zeilen 27 und 28.
  • Mittel:
    • Sprachliche Mittel:
      • Rhetorische Frage mit einer verkehrenden Kennzeichnung der Verhältnisse – aus potenziell glücklichem Wieder-Leben wird Quälerei
      • Wiederaufnahme des Tätervorwurfs
      • Veränderte Wiederholung der rhetorischen Frage, die die Endlosigkeit der täglichen Quälerei hervorhebt.
      • Dann eine Wiederholung kurzer, sehr bestimmt wirkender Sätze.
      • Am Ende eine rhetorische Frage mit einer sehr subjektiven Begründung, die das Ganze zu verharmlosen scheint, aber zugleich Autonomie andeutet: Was für etwas Schreckliches ist („Selbstmord“) ist für mich die bessere Variante zum Leben, die ich mir gerne gönne.
    • Literarische Mittel:
      • Das wichtigste Element ist wohl der scheinbar lockere Ton, der etwas Schreckliches auf der Ebene der schönen, leichten Wahl herunterzieht. Nach dem Motto: Jetzt übertreibt mal nicht mit eurem Selbstmord, vielleicht sogar noch strafbar – für mich ist das eine Entscheidung, für die es gute Gründe gibt, die aber nur mich alleine etwas angeht. Wie die Frage, ob man am Wochenende wegfährt oder nicht.

Anmerkungen zu Strophe 8

  • Zu Beginn der letzten Strophe wird die „Moral“ bzw. die Aussage des Gedichtes aus der Sicht des Mannes auf den Punkt gebracht.
  • Interessant ist dabei die Verwendung des Wortes „dürfen“.
  • Die Kritiker seines Denkens und Handelns werden sagen:
    „Aber du darfst doch leben. Dafür haben wir sogar mit hohem Aufwand und entsprechenden Kosten den Rettungsdienst eingesetzt.“
  • Darauf würde der Mann wohl antworten. „Es reicht nicht, wenn man mich einfach leben lässt. Zum Überleben in einem menschlichen Sinne braucht man mehr.“
  • Statt einen weiteren Brief zu schreiben, fühlt der Mann sich durch eine entsprechende Meldung in der Zeitung so provoziert, dass er aus dem Fenster spricht.
  • Seltsam, dass betont wird, dass er gewissermaßen zu seiner Tochter gesprungen ist, die unten gesessen hat.
  • Das kann man auf verschiedene Art und Weise interpretieren:
    • Es könnte bedeuten, dass er wenigstens im Tod seiner Tochter nahe sein wollte. Das wäre natürlich zynisch, aber für ihn eben genauso zynisch wie der Umgang mit ihm.
    • Vielleicht ist es auch ein Hinweis darauf, dass seine Tochter als Teil der Familie sich um ihren Vater nicht gekümmert hat.
    • Mittel:
      • Sprachliche Mittel:
        • Zunächst wieder lakonische Sentenz-Kürze wie eine Lebensweisheit.
        • Dann Wechsel ins Erzählerische – nach Abschluss des Briefes.
        • Kurze, gefühllose Beschreibung der Schluss-Aktion, allerdings verstärkt durch das Wort „warf sich“ statt „stürzte sich“: Anspielung auf etwas sehr Aktives, Bewusstes.
      • Literarische Mittel:
        • Am Ende dann eine Überraschung, was die sehr späte Einbeziehung eines Teils zumindest der Familie angeht.
        • Das literarische Mittel ist hier, dass der Leser sich darauf irgendwie einen Reim machen muss. Siehe dazu die inhaltlichen Überlegungen.

Wird noch fortgesetzt.

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