Irene Dische, „Liebe Mom, lieber Dad“ – Eine Lüge als notwendiges, weil hilfreiches Mittel (Mat5701)

Worum es hier geht:

  • Vorgestellt werden Inhalt und Aussagen einer ungewöhnlichen Kurzgeschichte, bei der eine Lüge geschickt als Mittel verwendet wird, um überhaupt in eine echte Kommunikation einsteigen zu können.
  • Es gibt interessante Parallelen zur Parabel.

Die außergewöhnliche Kommunikationssituation

  • Gleich am Anfang merkt man, dass dieser Kurzgeschichte eine ungewöhnliche Kommunikationssituation zugrundeliegt. Es wird nämlich ein Brief präsentiert, den eine junge Frau an ihre Eltern richtet.
  • Sie entschuldigt sich unächst für eine längere Kommunikationspause mit Hinweis auf ihre Situation im Krankenhaus.
  • Leserlenkung: Die gibt es jetzt natürlich doppelt. Denn man kann diese Geschichte ja auch aus der Perspektive der Eltern zur Kenntnis nehmen. Die dürften erst mal besorgt sein – möglicherweise froh, dass die Tochter überhaupt noch schreiben kann.

Erzählschritt 2: Rückblick auf Ausgangssituation

  • Im zweiten Erzählschritt geht die Briefschreiberin genauer auf ihre Situation ein und auf die Umstände, die zum Krankenhausaufenthalt geführt haben.
  • Deutlich wird, dass es einen Streit mit den Eltern gegeben hat, die mit der Wahl eines viel älteren Partners, der außerdem auch keine Karriere versprach, nicht einverstanden gewesen sind.
  • Anschließend gibt es auch schon Informationen, dass jetzt eine Autofahrt in erregtem Zustand ansteht. Als Leser ahnt man, was jetzt kommen kann, nämlich ein Unfall oder etwas Ähnliches.
  • Am Ende noch zwei wichtige Signale:
    • Zum einen der versteckte Hinweis, dass ihre Jackie ihre „beste Freundin gewesen“ ist. Das verstärkt die Erwartung eines Unfalls.
    • Außerdem gibt es den Hinweis, dass der letzte Streit vor einem Hintergrund stattgefunden hat, bei dem die Briefschreiberin eher auf Verständigung und Harmonie eingestellt gewesen ist.
  • Es folgt der Hinweis darauf, was anschließend geplant gewesen ist. Als Leser bekommt man außerdem genauere Infos zu ihrem Partner, die eine Brücke hätten schlagen können zwischen den Erwartungen der Eltern und den Zielen der Tochter.

ES 3: Rückblick auf ein Katastrophen-Gespräch

  • Es folgen Hinweis auf den Streit, bei dem der Vater so ausfällig wird, dass die Tochter zornig geht.
  • Zugleich wird durch den Hinweis der Tochter, wer fährt, erneut die Vermutung verstärkt, dass alles auf einen Unfall hinausläuft.

ES 4: Rückblick auf den Unfall und seine Folgen

  • Die Erwartung wird dann auch erfüllt. Recht detailliert werden der Unfall und seine Folgen beschrieben. Die Briefschreiberin hat jetzt mehrere Tote auf dem Gewissen.
  • Interessant der Hinweis auf einen Überlebenden. Da nichts in einer Geschichte zufällig ist, könnte sich daraus noch etwas ergeben – und wenn auch erst in der Gestaltung einer Füllung der Offenheit des Schlusses durch Fortsetzung aus Leserperspektive.
  • Es könnte aber auch sein, dass es der Briefschreiberin auf die besondere Situation des Jungen ankommt, der im Unterschied zu ihr unverletzt geblieben ist, was eher als Nachteil angesehen Er wird nämlich in dem Moment nicht von der schrecklichen Situation durch Konzentration auf sich selbst und mögliche Schmerzen abgelenkt.
  • Das könnte eine Überleitung sein zu der ganz anderen Situation der Briefschreiberin: Die ist möglicherweise erst mal mit sich selbst beschäftigt, was die nachträgliche Auseinandersetzung mit ihrer Schuld möglicherweise noch schlimmer macht.

ES 5: Rückblick auf die Folgen bei der Tochter

  • Es folgt dann sehr ausführlich das, was die Briefschreiberin angibt, anschließend erlebt zu haben.
  • Interessant, dass ganz nebenbei eingeflochten wird, dass ihr Partner nicht nur eine Farm betreibt, sondern anscheinend auch künstlerisch tätig ist. Eine weitere Aufwertung nach dem Hinweis, dass er nicht arm ist. Da kann es durchaus einen Zusammenhang geben – auf gut deutsch: Er malt Bilder, für die Leute viel Geld zahlen.

ES 6: Abschluss des Rückblicks und Überleitung

  • Es folgt dann, was man erwartet hat, nämlich die Auseinandersetzung mit ihrer Schuld.
  • Erstaunlich ist, dass das relativ distanziert abgehandelt wird.
  • Der Schluss des Briefes macht dann deutlich, warum die Tochter bei ihrer ausgedachten Unfallgeschichte nicht noch lange die Frage einer gar nicht vorhandenen Schuld diskutieren will.
  • Ihr kommt es wohl eher darauf an, ihre Eltern in eine besondere Rezeptionssituation zu versetzen und nebenbei darauf einiges einzuflechten über ihren Partner, das die Eltern in der Konfliktphase vielleicht gar nicht richtig wahrnehmen konnten oder wollten.

ES 7: … zur Wahrheit

  • Es folgt das Geständnis und die Aufklärung über die Art und Weise, wie die Tochter diesen Brief verfasst hat.
  • Sie kommt jetzt endlich dazu, ihren Eltern das zu sagen, was sie ihnen vor dem letzten Streit hatte sagen wollen, nämlich dass sie schwanger ist. Eine Nachricht, die bei wohl fast allen Eltern freudige Gefühle auslöst, wenn der soziale Kontext stimmt. Dafür hat die Briefschreiberin ja gesorgt.

ES 8: Schluss als Zeichen für 2. Chance der Familie

  • Der Schluss zeigt die Bereitschaft der Tochter, zu der Situation zurückzukehren, in der sie einfach nur als werdende Mutter die zukünftigen Großeltern umarmen wollte.

Was zeigt die Geschichte? Aussagen / Intentionalität

Insgesamt eine wunderbare Kurzgeschichte.

Sie zeigt nämlich,

  1. Welche untergründigen Probleme es in Familien geben kann und wie gefährlich es ist, wenn jemand wie der Vater hier einfach sein Vorurteil raushaut.
  2. Sie macht auch deutlich, wie diese Folgen aussehen können – von einem Unfall bis hin zu Selbstmord.
  3. Am wichtigsten ist aber, dass diese Briefschreiberin einen Weg gefunden hat, ihren Eltern klarzumachen, dass es wichtigere Dinge im Leben einer Familie gibt als die totale Zufriedenheit mit einem zukünftigen Schwiegersohn.
  4. Das hat in gewisser Weise Ähnlichkeit mit der Parabel, also einer Geschichte, die auch etwas Unwahres erzählt, um Erkenntniswiderstände zu umgehen, was die eigentliche Wahrheit angeht. (siehe die Themenseite weiter unten).
  5. Besonders raffiniert vom Kommunikationsverhalten ist in diesem Brief noch, dass ganz nebenbei die Vorurteile der Eltern und besonders des Vaters zumindest in Frage gestellt werden – nach dem Motto: „Erfolg im Leben ergibt sich nicht nur, wenn jemand den Weg geht, den ich für richtig halte.“

Warnhinweis:

Wenn man sich nicht nur mit dieser fiktiven Familie mitfreuen möchte, dann birgt diese Methode natürlich auch eine Gefahr.
Zwar gibt es die Möglichkeit einer Überwindung des Kommunikationshindernisses durch Umgehung – allerdings mit dem Unterschied einer schon etwas problematischen Bezugsintensität, denn die Mutter könnte ja auch einen Herzinfarkt bekommen – und dann bekommt sie den erlösenden Schluss des Briefes gar nicht mehr mit. Eine besondere Art von Tragik.

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