Kafka und die Bibel: Zwei Varianten von „Heimkehr“ (Mat8033)

Worum es hier geht:

Wer immer sich fragt, wie es mit seinen Ursprüngen aussieht, kann sich an zwei Varianten von Heimkehr orientieren.

  1. Zum einen ist da das berühmte „Gleichnis vom verlorenen Sohn“ –
  2. zum anderen die weniger bekannte, aber dafür als Kontrast sehr gut passende Parabel „Heimkehr“ von Franz Kafka.
    Deutlich wird auf jeden Fall das Dilemma des modernen Menschen.
    Lukas, 15,11-32

Die Bibelstelle

  • 11 Und er sprach: Ein Mensch hatte zwei Söhne.
  • 12 Und der jüngste unter ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Teil der Güter, das mir gehört. Und er teilte ihnen das Gut.
  • 13 Und nicht lange darnach sammelte der jüngste Sohn alles zusammen und zog ferne über Land; und daselbst brachte er sein Gut um mit Prassen. (Sprüche 29.3)
  • 14 Da er nun all das Seine verzehrt hatte, ward eine große Teuerung durch dasselbe ganze Land, und er fing an zu darben.
  • 15 Und ging hin und hängte sich an einen Bürger des Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten.
  • 16 Und er begehrte seinen Bauch zu füllen mit Trebern, die die Säue aßen; und niemand gab sie ihm. (Sprüche 23.21)
  • 17 Da schlug er in sich und sprach: Wie viel Tagelöhner hat mein Vater, die Brot die Fülle haben, und ich verderbe im Hunger!
  • 18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir (Psalm 51.6) (Jeremia 3.12-13)
  • 19 und bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner!
  • 20 Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Da er aber noch ferne von dannen war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn, lief und fiel ihm um seinen Hals und küßte ihn.
  • 21 Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße.
  • 22 Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringet das beste Kleid hervor und tut es ihm an, und gebet ihm einen Fingerreif an seine Hand und Schuhe an seine Füße,
  • 23 und bringet ein gemästet Kalb her und schlachtet’s; lasset uns essen und fröhlich sein!
  • 24 denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an fröhlich zu sein. (Epheser 2.5)
  • 25 Aber der älteste Sohn war auf dem Felde. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er das Gesänge und den Reigen; 26 und er rief zu sich der Knechte einen und fragte, was das wäre.
  • 27 Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat ein gemästet Kalb geschlachtet, daß er ihn gesund wieder hat.
  • 28 Da ward er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn. (Matthäus 20.15)
  • 29 Er aber antwortete und sprach zum Vater: Siehe, so viel Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten; und du hast mir nie einen Bock gegeben, daß ich mit meinen Freunden fröhlich wäre.
  • 30 Nun aber dieser dein Sohn gekommen ist, der sein Gut mit Huren verschlungen hat, hast du ihm ein gemästet Kalb geschlachtet.
  • 31 Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein.
  • 32 Du solltest aber fröhlich und gutes Muts sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist wieder gefunden.

Frank Kafka, Heimkehr

Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät, ineinander verfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind.

Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn. Und ich wage nicht an die Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so, dass ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.

Auswertung

  1. Bei Kafka findet man die Situation des modernen Menschen, der sich nach „Heimkehr“ sehnt, aber letztlich nicht den entscheidenden Schritt tun kann. Der Grund dafür ist seine Unsicherheit.
  2. Damit wird ein entscheidendes Kennzeichen bzw. Thema von Kafkas Geschichten deutlich: Sie zeigen die Heimatlosigkeit des modernen Menschen. Er hat noch eine Ahnung von einem Zuhause, traut sich aber dort nicht mehr hin.
  3. Interessant ist es, nach den Gründen zu fragen – hier kann möglicherweise der Religions- oder Philosophieunterricht helfen.
  4. Die Bibel dagegen präsentiert noch eine Weltsicht, bei der der Mensch Fehler machen kann und trotzdem von einer höheren Instanz aufgehoben bzw. wieder angenommen wird.
  5. Das hat viel Ähnlichkeit mit der Sicht Goethes am Anfang seines Dramas „Faust“.

Die Grundmuster von Kafkas Erzählungen – zentrale Themen und Aussagen

  • Kafka schnell verstehen, indem man auf die  Grundmuster in seinen Erzählungen achtet
    Kafkas Erzählungen erscheinen auf den ersten Blick sehr fremdartig. Wenn man aber die Grundmuster kennt, merkt man schnell, worum es in der jeweiligen Geschichte geht: hier gibt es eine entsprechende Übersicht:
    https://textaussage.de/kafka-grundmuster

Klausur zu dieser Erzählung mit Klärung der Parabeleigenschaft

Nur hinweisen wollen wir hier auf eine Seite, in der im Rahmen einer Klausur diese Geschichte und besonders die Frage, inwieweit es sich um eine Parabel handelt, geklärt wird:
https://textaussage.de/klausur-textanalyse-und-interpretation-franz-kafka-heimkehr

Weitere Infos, Tipps und Materialien

Weitere Infos, Tipps und Materialien zu den Erzählungen von Franz Kafka:
https://textaussage.de/kafka-themenseite

Außerdem Kontaktmöglichkeit, Themenseiten und Videos
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