Kafka verstehen – ganz einfach, man muss nur einen Schlüssel haben (Mat5779)

Worum es hier geht:

Franz Kafka gilt als ein Dichter, dessen Texte man nur schwer verstehen kann. Sie sind wie Zimmer mit schwer zu öffnenden Türen.

Wir hatten das Glück, einen Schlüssel zu finden – und das kam so: Vor langer Zeit haben wir mal fast alle kurzen Erzählungen von Kafka gelesen. Wir dachten nämlich, dass er in einer Prüfung zu einer Aufgabe werden könnte.

Am Anfang fanden wir die Geschichten nur seltsam – aber dann merkten wir, dass sie alle mehr oder weniger in eine Richtung gingen. Man konnte sie nämlich verstehen als „Bildgeschichten“ oder Gleichnisse in Form einer Erzählung. Die kennt man aus der Bibel – und dort gibt es eine Geschichte, die man als „Mutter aller Parabeln“ bezeichnen kann.

Der Begriff stammt aus der Welt der Mathematik. Wer sich da ein bisschen auskennt, der weiß auch, was eine Normalparabel ist.

Hier eine Skizze, die Mathematiker nicht so ernst nehmen sollten 😉

Die Parabel

Und die Geschichten, die man Parabeln nennt, haben auch diese zwei Äste.

Da gibt es zunächst mal die Sachseite. Das ist meistens ein Problem, das man klären möchte. Um das Verständnis zu erleichtern, beginnt man nicht gleich mit dem schwierigen Teil, sondern präsentiert erst mal eine einfache Variante des Problems.

Hier kann eine Geschichte aus dem Alten Testament der Bibel helfen:

Beispiel für eine Parabel aus der Bibel

  1. Es geht um König David, mal eine Frau sah, die er gerne haben wollte. Leider war sie verheiratet. Glücklicherweise war der Mann gerade als Offizier im Krieg. Also sorgte der König dafür, dass er mal ganz nach vorne geschickt wurde. Dann zogen sich die anderen schnell zurück – und schon war das Problem für David gelöst. Der Offizier und Ehemann war tot.
  2. Womit König David aber nicht gerechnet hatte: Es gab einen klugen Propheten namens Nathan, der erfuhr davon. Jetzt musste er sich überlegen, wie er dem König seine Schuld klar machen konnte. Denn erstens war der König mächtig – und zum anderen sicher uneinsichtig. Denn wer gibt schon gerne eine Schuld zu – vor allem, wenn er keinen Richter über sich hat.
  3. Da konnte es helfen, wenn man dem König erst mal eine etwas erzählte: Also erfand Nathan den Fall eines reichen Mannes, der selbst viele Schafe hatte. Aber er wollte für ein Gastmahl keins davon opfern. Also nahm er einfach seinem armen Nachbarn, der nur ein Schaf hatte, diese weg.
  4. Jetzt war dem König die Sache klar. Er war ja auch oberster Richter: Also rief er aus: „Der Mann – er meinte den Reichen – ist ein Mann des Todes.“
  5. Jetzt hatte Nathan, was er brauchte, nämlich die Einsicht, dass hier ein Verbrechen geschehen war, das bestraft werden muss.
  6. Womit der König aber nicht gerechnet hatte, war der Ausruf Nathans: „Du bist der Mann.“
  7. Anschließend machte er dem König klar, dass er ja auch einem anderen Mann die einzige Frau weggenommen hatte. Dazu kam bei ihm noch die Ermordung des Ehemanns.
  8. König David wurde dann auch wirklich bestraft – von Gott – das kann man in der Bibel nachlesen.
  9. Schauen wir uns noch mal die Teile der Parabel an:
    1. Da ist der Sachteil – die die Wegnahme der Frau und die Ermordung des Mannes. Es geht um klare Schuld, die man aber vielleicht nicht einsehen kann oder will.
    2. Dann gibt es den Bildteil, eine einfache Geschichte, die zur klaren Erkenntnis führt.
    3. Diesen Punkt, wo die beiden Äste der Parabel zusammenstoßen, nennt man „Gemeinsamen Punkt“
  10. Damit hat man einen Umweg, auf dem man schwierige oder heikle Dinge erklären kann.

Übertragung der Parabel auf Kafkas Erzählungen

  1. Wir haben bei unserer Lektüre von Kafkas Erzählungen bald gemerkt, dass das ganz besondere Geschichten waren. Viele wirken fast wie Albträume.
  2. Das brachte uns auf den Gedanken, diese Texte als Bildgeschichten zu verstehen, die eine Sachseite erklären könnten. Das heißt nicht, dass Kafka sie zu dem Zweck geschrieben hat. Als Dichter kann er seine Leser dem Text und sich selbst überlassen.
  3. Wir haben uns dann gedacht: Was zeigen diese Geschichten eigentlich ganz allgemein. Dabei kamen wir auf zwei Dinge, die allerdings zusammengehören.
    1. Die Situation des Menschen – ganz allgemein
    2. und damit in der Welt.
  4. Schauen wir uns mal ein Beispiel an. Bei dem gibt es glücklicherweise sogar eine Bibel-Variante und eine von Kafka.
  5. Zunächst die Geschichte aus der Bibel:
    1. Da ist ein junger Mann, der irgendwann keine Lust mehr hat, seinem Vater bei der Landwirtschaft zu helfen.
    2. Also geht er zu ihm und will seinen Teil des Erbes haben.
    3. Das bekommt er auch und zieht los.
    4. Er fängt mit dem Geld aber nichts Vernünftiges an, sondern vergeudet es einfach für Spaß ohne Ende.
    5. Dann ist er selbst auch am Ende und muss schließlich bei einem Bauern arbeiten und ernährt sich von dem, was auch die Schweine bekommen.
    6. Er erkennt seinen Fehler und geht zu seinem Vater zurück. Er will lieber dort arbeiten und zumindest Wasser und Brot bekommen.
    7. Zu seiner Überraschung aber freut sich der Vater, verzeiht ihm und feiert ein großes Fest.
  6. Diese Geschichte läuft auf den Gemeinsamen Punkt zu, dass Gott jedem Menschen als Vater verzeiht, wenn er ehrlich bereut und zurückkehrt.
  7. Von Kafka gibt es nun eine Geschichte, die auch noch „Die Heimkehr“ heißt:
    Die schauen wir uns jetzt mal genauer an.

Mensch und Welt in einer „Parabel“ von Franz Kafka

Franz Kafka, Heimkehr

Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät, ineinander verfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind. Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn. Ich wage nicht an der Küchentüre zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so, dass ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.

  1. Zunächst einmal ist es eine sehr seltsame Geschichte, die gut auch ein Albtraum sein könnte.
  2. Also wenden wir einfach unseren Schlüssel mal auf diese seltsame Geschichte an: Situation des Menschen in der Welt.
  3. Dann merkt man: Da war jemand weit weg und will jetzt nach Hause.
    • Das kann man auf den Menschen übertragen, der eine Ahnung von einer Heimat hat, zu der er will. Jeder kann sich selbst ausmalen, was für ihn der Traum von Heimat ist.
    • Diese Heimat ist aber nicht mehr so schön und leicht erreichbar wie früher, als die Welt der Menschen noch einen sicheren Boden zu haben schien – zum Beispiel in einer Religion.
    • Dann beginnen sehr negative Vorstellungen des Menschen. Er kann sich nicht vorstellen, dass die Leute in der Heimatwelt sich für ihn interessieren.
    • Je mehr er sich etwas vorstellt, desto unsicherer wird er.
    • Schließlich weiß er nicht mal mehr, ob er zu dieser Heimatwelt überhaupt gehört.
  4. Das kann man gut auf die Situation des Menschen in der modernen Welt übertragen.
    1. Man weiß noch irgendwie, dass man eine Heimat hat, einen sicheren Ort, zu dem man gehört.
    2. Aber dieser Ort ist einem fremd geworden.
    3. Je mehr man sich damit beschäftigt, umso unsicherer wird man sich, was den Ort angeht. Schließlich ist man sich nicht mehr der eigenen Identität sicher.
  5. Das kann jetzt jeder für sich näher ausgestalten.
    1. Entscheidend ist nur, dass der Mensch der Bibel noch einen (himmlischen) Vater hatte, zu dem er jederzeit zurückkehren konnte – und auch aufgenommen wurde.
    2. In der heutigen Zeit aber sind sich die meisten Menschen unsicher geworden, was eine transzendente Welt angeht, zu der sie gehören und die sie auch aufnimmt, wenn man heimkehrt.

Hinweis auf vergleichbare Parabeln Kafkas

Wie wir schon sagten, wir haben viele Parabeln von Kafka gelesen – und unsere Erklärung hat bisher immer gepasst.

Auf der folgenden Seite findet man zum Beispiel Texte von Kafka, die man so verstehen kann:
https://textaussage.de/kafka-themenseite

Was die Unsicherheit des Menschen angeht, empfehlen wir vor allem die folgende Geschichte:

Kafkas Parabel „Gib‘s auf!“ Brüchigkeit und Irrsinn der Realität?
https://textaussage.de/kafka-gibs-auf

Wir präsentieren diese Seite auch in Englisch. Denn es könnte ja sein, dass auch in dieser Sprachwelt jemand sich freut, wenn er diesen Schlüssel zu Kafkas Erzählungen kennenlernt.

Wer auch immer der Meinung ist, es gibt noch einen besseren Schlüssel oder unser Schlüssel passt nicht immer, der kann sich einfach bei uns melden. Wie das möglich ist, zeigen wir hier:

Fragen und Anregungen können auf dieser Seite abgelegt werden:
https://textaussage.de/schnelle-hilfe-bei-aufgaben-im-deutschunterricht

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