Kafka, „Die Verwandlung“ – Was verändert sich bei Gregors Schwester und warum?

Kafka, „Die Verwandlung“ – Was verändert sich bei Gregors Schwester und warum?

Grundsätzlich geht es bei solchen Fragen um zwei Bereiche: zum einen den Inhalt, der eine Rolle für die Fragestellung spielt. Zum anderen braucht man natürlich Hypothesen, also Vermutungen, die man im Hinblick auf Antworten überprüfen kann.

Wir zeigen hier, wie man solch eine Frage einfach mit Hilfe des Textes und eigener Überlegungen beantworten kann. Das könnte auch zum Beispiel der erste Teil einer Facharbeit sein.

Dazu käme dann allerdings noch die Einbeziehung der Wissenschaft mit Hilfe entsprechender Informationsquellen – das geschieht hier im Hinblick auf das wichtige Buch von Volker Drüke wenigstens ansatzweise.

Vorüberlegungen und Hypothesen

Im Folgenden beschreiben wir den Weg, der für uns zur Antwort auf die Frage führt.

  1. Schon die Frage ist wichtig, denn sie macht deutlich, dass die eigentliche Verwandlung in der Erzählung von Kafka nicht Gregor betrifft, sondern seine Schwester.
  2. Das ist die Ausgangsthese, die dann um die zweite ergänzt wird, die wir noch finden müssen. Denn das ist nämlich die schwierigere Frage. Was sind die Gründe für die Verwandlung der Schwester, die weniger spektakulär verläuft, zumindest am Anfang. Im folgenden werden erste Überlegungen aufgelistet, die zum einen überprüft werden müssen, zum anderen sich noch verändern können. Möglich ist auch, dass man einzeln ausdifferenzierte Gründe stärker bündeln kann.
    1. Ein Grund könnte sein, dass bei Grete noch eine alte geschwisterliche Bindung da ist, die im Laufe der Zeit verschwindet.
    2. Ebenfalls könnte eine allgemeine Hilfsbereitschaft eine Rolle spielen, die Ermüdungserscheinungen ausgesetzt ist.
    3. Es könnte auch sein, dass der Ausfall von Gregor in der Familie einen Leerraum erzeugt, den die Schwester dann für sich nutzen und füllen will.
    4. Es könnte bei der Schwester auch ein Prozess des jetzt endlich aufbrechenden Erwachsenwerdens sein.
    5. Vielleicht ist es auch ein Selbstbefreiungsprozess, weil die Schwester die unnatürliche Situation, in die die Familie geraten ist, nicht mehr aushält.
  3. Was Gregor angeht, so verwandelt der sich nur äußerlich – in Wirklichkeit ist er schon vorher ziemlich in einem falschen Leben.
  4. Aber seine Schwester verwandelt sich sich in ziemlich starkem Maße, wie man vor allem merkt, wenn man den Schluss mit dem Anfang vergleicht.

Sammeln der inhaltlichen Punkte, die eine Rolle spielen

Schauen wir uns in einem ersten Schritt die Textstellen an, in denen von der Schwester die Rede ist. Die Text Verweise beziehen sich auf die Reclam XL-Ausgabe.

Die Ausgangssituation: Anteilnahme und Fürsorge

  • Seite 8: Zum ersten Mal wird die Schwester erwähnt, als die Familie versucht, Gregor hinter der verschlossenen Tür seines Zimmers zu einem normalen Erscheinen am Morgen zu veranlassen. Die Schwester klagt leise und fragt ihren Bruder: „Ist dir nicht wohl? Brauchst du etwas?“ Später flüstert sie noch: „Gregor, mach auf, ich beschwöre dich.“ Hier wird neben Betroffenheit und Sorge ein anscheinend recht gutes geschwisterliches Verhältnis deutlich.
  • Seite 12: Als der Prokurist erscheint und Gregor damit in eine besonders schwierige Situation gerät, macht die Schwester ihn flüsternd darauf aufmerksam.
  • Seite 13: Etwas später beginnt die Schwester zu „schluchzen“, was eher auf Schwäche hindeutet. Es folgen einige Hinweise Gregors darauf, dass seine Schwester gewöhnlich erst spät aufsteht, also in besonderer Weise es ausnutzt, dass Gregor für die Familie mit seinem Einkommen sorgt.
  • Seite 16: Hier stellt die Schwester sich auf die Seite der Mutter, die inzwischen Angst bekommen hat, dass ihr Sohn schwer krank sein könnte.
  • Seite 20/21: Kurz darauf bedauert Gregor, dass seine Schwester auf dem Weg zu einem Arzt ist: „Wäre doch die Schwester hier gewesen! Sie war klug; sie hatte schon geweint, als Gregor noch ruhig auf dem Rücken lag. Und gewiss hätte der Prokurist, dieser Damenfreund, sich von ihr lenken lassen; sie hätte die Wohnungstür zugemacht und ihm im Vorzimmer den Schrecken ausgeredet. Aber die Schwester war eben nicht da, Gregor selbst musste handeln.“
    Das ist eine Stelle, an der deutlich wird, dass er seiner Schwester doch einiges zutraut, nicht nur an Empathie, sondern auch an Tatkraft.
  • Seite 24: Hier stellt Gregor fest, dass die Schwester sich um die Frage seines Essens gekümmert hat. Sie hat ihm Milch, sein Lieblingsgetränk, hingestellt, das er allerdings nach seiner äußerlichen Verwandlung nicht mehr genießen kann.
  • Seite 25: Gregor stellt fest, dass sein Vater nicht wie gewöhnlich abends der Mutter und manchmal auch seiner Schwester etwas vorliest. Das hat diese ihm erzählt, denn er selbst arbeitet ja den größten Teil des Tages.

Zunehmende Distanzierung

  • Eine wichtige Stelle findet sich dann auf Seite 26.
    • Die Schwester ist anscheinend früher aufgestanden und öffnet die Tür zu Gregors Zimmer und sieht „mit Spannung“ (also mit Interesse und gegebenenfalls auch Tatkraft)  nach ihrem Bruder. Sie erschrickt dann allerdings, als sie ihn unter dem Kanapee bemerkt und schlägt die Tür gleich wieder von außen zu.
    • Dann heißt es allerdings: „Aber als bereue sie ihr Benehmen, öffnete sie die Tür sofort wieder und trat, als sei sie bei einem Schwerkranken oder gar einem Fremden, auf den Fußspitzen herein.“
    • Interessant ist hier, dass die Schwester nicht etwa bei Vater oder Mutter sich erst mal Rat oder Hilfe holt, sondern dass sie selbst das Notwendige in die Hand nimmt.
    • Allerdings registriert Gregor auch neben der Vermutung von Krankheit eine gewisse Distanz in ihrer Haltung. Auch fasst sie den Napf mit der Milch, die Gregor verschmähen musste, nicht mit bloßen Händen an.  Dann aber bekommt Gregor von ihr eine Vielfalt an Nahrungsmitteln, mit denen die Schwester ausprobieren will, was dieses offensichtlich zum Tier verwandelte Wesen noch genießen kann.
    • Ihr anschließendes schnelles Verschwinden erklärt Gregor sich mit „Zartgefühl“.
  • Seite 28: Auch dass die Schwester später den Schlüssel der Tür langsam herumdreht, interpretiert Gregor sich als Hinweis, dass er sich jetzt in seinen Unterschlupf zurückziehen sollte. Deutlich werden aber auch andere Gründe für ihr Verhalten, wenn Sie die Essensreste „hastig“  in einen Kübel schüttet und verschwindet.

Zunehmende Selbstständigkeit der Schwester, die Gregor immer noch für ein Kind hält

  • Seite 28/29: Im weiteren Verlauf wird dann deutlich, dass die Schwester Gregor isoliert und auch von den Eltern möglichst fern hält. Da sie nicht darauf kommt, dass Gregor sie zumindest versteht, auch wenn er sich selbst nicht verständlich machen kann, bekommt er nur wenig von ihr zu hören – nämlich „Seufzer und Anrufe der Heiligen“. Deutlich wird aber, dass die Schwester ein Interesse daran hat, dass Gregor mit passablem Essen versorgt wird.
  • Seite 29/30: Klaglos und ganz selbstverständlich unterstützt die Schwester in der Folgezeit Ihre Mutter beim  Kochen und bemüht sich auch, dem Vater gefällig zu sein, wenn er etwas zu trinken haben möchte.
  • Seite 30/31: Im Zusammenhang mit der Eröffnung der überraschend positiven finanziellen Verhältnisse durch den Vater spricht Gregor von seinem geheimen Plan, seine Schwester angesichts ihrer Freude an Musik auf das Konservatorium zu schicken. Es folgen sehr rücksichtsvoller Äußerungen von Gregor, was die Möglichkeiten von Vater, Mutter und Schwester angeht, selbst etwas zum Lebensunterhalt beizutragen. Seine Schwester sieht er dabei nur als „Kind“ „mit ihren 17 Jahren“, der er ihre bisherige unproduktive Lebensweise offensichtlich von Herzen gönnen.

Unruhe der Schwester bei Gregor – Zunahme ihres Ansehens bei den Eltern

  • Ab Seite 33 verschlechtert sich das Betreuungsverhältnis zwischen Schwester und Bruder. Auf der einen Seite heißt es: „Die Schwester suchte freilich die Peinlichkeit des Ganzen möglichst zu verwischen“, dann aber heißt es: „aber auch Gregor durchschaute mit der Zeit alles viel genauer. Schon der Eintritt war für ihn schrecklich.“ Anschließend beschreibt er das hastige Verhalten der Schwester, der es offensichtlich inzwischen unmöglich ist, „sich in einem Zimmer, in dem sich Gregor befand, bei geschlossenem Fenster aufzuhalten.“
  • Seite 33/34: Als die Schwester kurze Zeit später dann doch Gregor mal komplett zu sehen bekommt, verschwindet sie möglichst schnell und erscheint anschließend „viel unruhiger als sonst“. Gregor erkennt, dass sie seinen Anblick nicht erträgt und kommt ihr dadurch entgegen, dass er sich mit einem Leintuch verhüllt, was bei ihr einen „dankbaren Blick“ auslöst.
  • Seite 34/35: Der Unruhe der Schwester und den zunehmenden Problemen der Betreuung Gregors gegenüber steht die Verbesserung der familiären Position Gretes: „In den ersten 14 Tagen konnten es die Eltern nicht über sich bringen, zu ihm hereinzukommen, und er hörte oft, wie sie die jetzige Arbeit der Schwester völlig anerkannten, während sie sich bisher häufig über die Schwester geärgert hatten, weil sie ihnen als ein etwas nutzloses Mädchen erschienen war. Nun aber warteten oft beide, der Vater und die Mutter, vor Gregors Zimmer, während die Schwester dort aufräumt, und kaum war sie herausgekommen, wusste sie ganz genau erzählen, wie es in dem Zimmer aussah, was Gregor gegessen hatte, wie er sich diesmal benommen hatte, und ob vielleicht eine kleine Besserung zu bemerken war.“ Man merkt hier deutlich, wie sich die Macht- und Einflussverhältnisse in der Familie verschieben.

Zunehmende Machtausübung durch die Schwester

  • Seite 35-38: Im folgenden zeigt sich, dass zum neuen Verhalten und zur neuen Position der Schwester auch eine Zunahme ihres Eigensinns gehört.
    • Als sie feststellt, dass Gregor gerne im Zimmer herumkriecht, setzt sie sich in den Kopf, die Möbel entsprechend umzuräumen, um ihm Platz zu verschaffen.
    • Das führt zu einer aufwändigen Aktion zusammen mit der Mutter, die allerdings bald zu der Einsicht kommt, dass man damit Gregor nicht unbedingt einen Gefallen tue. Vor allem würde man damit ihm zeigen, dass „wir jede Hoffnung auf Besserung aufgeben und ihn rücksichtslos sich selbst überlassen.“ (37)
    • Gregor sieht das ein, fühlt sich durch die Stimme der Mutter regelrecht „aufgerüttelt“ (37).
    • Er muss dann allerdings feststellen, dass deine Schwester „leider anderer Meinung“ ist: „Sie hatte sich, allerdings nicht ganz unberechtigt, angewöhnt, bei Besprechung der Angelegenheiten Gregors als besonders Sachverständige gegenüber den Eltern aufzutreten und so war auch jetzt der Rat der Mutter für die Schwester Grund genug, auf der Entfernung nicht nur des Kastens und des Schreibtisches, an die sie zuerst allein gedacht hatte, sondern auf der Entfernung sämtlicher Möbel, mit Ausnahme des unentbehrlichen Kanapees, zu bestehen.“
      Interessant ist die Beurteilung des Verhaltens der Schwester durch Gregor:
    • „Es war natürlich nicht nur kindlicher Trotz und das in der letzten Zeit so unerwartet und schwer erworbene Selbstvertrauen, dass sie zu dieser Forderung bestimmte, sie hatte doch auch tatsächlich beobachtet, dass Gregor viel Raum zum Kriechen brauchte, dagegen die Möbel, soweit man sehen konnte, nicht im geringsten benützte. Vielleicht aber spielte auch der schwärmerische Sinn der Mädchen ihres Alters mit, der bei jeder Gelegenheit seine Befriedigung sucht, und durch den Grete jetzt sich dazu verlocken ließ, die Lage Gregors noch schreckenerregender machen zu wollen, und dann noch mehr als bis jetzt für ihn leisten zu können. Denn in einen Raum, in dem Gregor ganz allein die leeren Wände beherrschte, würde wohl kein Mensch außer Grete jemals einzutreten sich getrauen.“
    • An dieser Stelle wird zum einen die Veränderung, die sich durch die „Verwandlung“ Gregors bei der Schwester ergeben hat, deutlich. Zum anderen aber wird die gesamte Wahrnehmung und ihre Auswertung nur aus der Perspektive Gregors präsentiert. Allerdings hat man den Eindruck, dass der Erzähler hier sehr personal vorgeht, alles also auch zu seiner eigenen Sache macht.

Die Schwester wird für Gregor zur Bedrohung

  • Seite 39/40: Direkt im Anschluss an die Überlegungen Gregors kommt es zum Eklat: Bei Gregor verstärken sich die negativen Gefühle: „sie räumten ihm sein Zimmer aus; nahmen ihm alles, was ihm lieb war“. Das bringt ihn dazu, plötzlich hervor zu brechen, um zumindest „das Bild der in lauter Pelzwerk gekleideten Dame“ zu retten. Grete versucht dann, die Mutter vor dem Anblick ihres verwandelten Sohnes zu bewahren. Das löst bei Gregor allerdings eine weitere negative Reaktion aus:
    „Die Absicht Gretes war für Gregor klar, sie wollte die Mutter in Sicherheit bringen und dann ihn von der Wand hinunterjagen. Nun, sie konnte es ja immerhin versuchen! Er saß auf seinem Bild und gab es nicht her. Lieber würde er Grete ins Gesicht springen.“
  • Die Situation verschlimmert sich dann noch, als die Mutter sich von Grete nicht zurückdrängen lässt und angesichts des Anblicks ihres verwandelten Sohnes zusammenbricht.
  • Gregor will behilflich sein, wird von der Schwester „mit erhobener Faust und eindringlichen Blicken zurückgewiesen“ und bleibt schließlich allein im Zimmer zurück, nachdem die Schwester die Tür zugeschlagen hat.
  • Interessant ist das Umfeld der Idee der Hilfe, die Gregor kommt. Dort heißt es nämlich: „er lief dann auch ins Nebenzimmer, als könne er der Schwester irgendeinen Rat geben, wie in früherer Zeit„. Das ist nämlich auch ein deutliches Zeichen in Richtung Veränderung ihres Verhältnisses.

Die Schwester provoziert die Gewaltaktion des Vaters

  • Die Situation verschlimmert sich dann für Gregor noch, weil die Schwester dem zurückkehrenden Vater nur kurz mitteilt: „Die Mutter war ohnmächtig, aber es geht ihr schon besser. Gregor ist ausgebrochen.“
  • Gregor versucht, sich diese Formulierung noch etwas schön zu reden, kann aber nicht verhindern, dass der völlig verändert wirkende, jetzt machtvoll auftretende Vater regelrecht Jagd auf ihn macht und ihn dabei mit Äpfeln bewirft, von denen einer ihn trifft und erheblich verletzt.
  • Insgesamt stellt diese Episode ein Schlüsselereignis in der Erzählung statt, denn durch die von Grete ausgelöste Aktion wird deutlich, dass sich inzwischen grundsätzlich „veränderte Verhältnisse“ in der Familie ergeben haben.

Positionsveränderungen in den Familienverhältnissen

    • Die Schwester hat die Betreuung Gregors zu ihrer alleinigen Sache gemacht
    • Und dabei sowohl ein ganz neues Selbstbewusstsein entwickelt
    • als auch eine veränderte Position in der Familie bekommen.
    • Die Mutter zeigt zwar viel Mitgefühl mit ihrem Sohn, ist aber der Brutalität der Realität nicht gewachsen und kann sich gegen die Schwester nicht durchsetzen.
    • Der Vater ist aus seiner Lethargie aufgewacht und übernimmt zumindest rein äußerlich die Position einer autoritären Führungspersönlichkeit.
    • Gregor ist ab jetzt nicht mehr nur Außenseiter, sondern jemand, der als Last, ja sogar als Gefahr empfunden wird. Die Verwendung des Wortes „ausgebrochen“ macht das über deutlich. Als Leser kann man die verharmlosende Interpretation der Formulierung durch Gregor kaum übernehmen.

Retardation: zwischen Duldung und Vernachlässigung

  • Zu Beginn des zweiten Teils verbessert sich die Situation Gregors zumindest etwas, weil der Vater eingesehen hat, „dass Gregor trotz seiner gegenwärtigen traurigen und ekelhaften Gestalt ein Familienmitglied war, das man nicht hier einen Feind behandeln durfte, sondern dem gegenüber es das Gebot der Familienpflicht war, den Widerwillen hinunterzuschlucken und zu dulden, nichts als zu dulden (44). So bekommt er denn auch eine gewisse Normalisierung der Familienverhältnisse mit. Dazu gehört auch, dass die Schwester inzwischen berufstätig gewohnt ist und auch gewisse Karriereabsichten hat.
  • Auf Seite 46 ist dann von einer „abgearbeiteten und übermüdeten Familie“ die Rede, die keine Zeit hat, „sich um Gregor mehr zu kümmern, als unbedingt nötig“ ist. Offensichtlich gibt es vor allem beim Vater erhebliche Probleme bei der Umstellung von Jahre lang nichts tun auf plötzliche Erwerbstätigkeit.
  • Damit erklärt Gregor sich die schlechter gewordene Versorgung durch die Schwester: „ohne jetzt mehr nachzudenken, womit man Gregor einen besonderen Gefallen machen könnte, schob die Schwester eiligst, ehe sie morgens und mittags ins Geschäft lief, mit dem Fuß irgendeine beliebige Speise in Gregors Zimmer hinein, um sie am Abend, gleichgültig dagegen, ob die Speise vielleicht nur verkostet oder – der häufigste Fall – gänzlich unberührt war, mit einem Schwenken des Besens hinauszukehren.“ (47/48)
  • Dazu kommt: „Das Aufräumen des Zimmers, dass sie nun immer abends besorgte, konnte gar nicht mehr schneller getan sein.“ Auf die Versuche Gregors, sie auf besonders verschmutzte Stellen aufmerksam zu machen, reagiert die Schwester gar nicht.
  • Verbunden ist das mit einer ganz neuen „Empfindlichkeit, (…) dass das Aufräumen von Gregors Zimmer ihr vorbehalten blieb.“ (48).  Mit der Mutter, die einmal Gregors Zimmer von sich aus gründlich reinigt, kommt es darüber zu einem großen Streit, der wiederum bei Gregor regelrechte „Wut“ auslöst, „dass es keinem einfiel, die Tür zuschließen und ihm diesen Anblick und Lärm zu ersparen.“

Tragischer Schlusspunkt: Schnittpunkt zweier Notwendigkeiten

  • Ein nächster und letztlich entscheidende Wendepunkt im Verhältnis Gregors zu seiner Familie ergibt sich, als die Schwester den Zimmerherren auf der Violine vorspielt und diese bei dieser Gelegenheit Gregor zu Gesicht bekommen, als dieser sich zu weit vorwagt.
  • Interessant ist, wie Kafka hier den Gegensatz gestaltet zwischen der realen Situation Gregors in seiner völlig verschmutzten Umgebung und seinem Ergriffensein von der Musik, die seine Schwester präsentiert.
    • Wieder einmal ist nicht ganz klar, ob hier Gedanken Gregors oder des Erzählers wiedergegeben werden, wenn es heißt: „War er ein Tier, da ihn die Musik so ergriff? Ihm war, als zeige sich ihm der Weg zu der ersehnten unbekannten Nahrung.“
    • Diesen Weg beschreitet Gregor dann auf verhängnisvolle, wenn auch nachvollziehbare Weise. Damit ergibt sich der Schnittpunkt zweier Notwendigkeit, nämlich zwischen seinen Bedürfnissen und den inzwischen realen Familienverhältnissen sowie den damit verbundenen Bedürfnissen.
    • „Er war entschlossen, bis zur Schwester vorzudringen, sie am Rock zu zupfen und ihr dadurch anzudeuten, sie möge doch mit ihrer Violine in sein Zimmer kommen, denn niemand lohnte hier das Spiel so, wie er es lohnen wollte.
      • Er wollte sie nicht mehr aus seinem Zimmer lassen, wenigstens nicht, solange er lebte;
      • seine Schreckgestalt sollte ihm zum ersten Mal nützlich werden; an allen Türen seines Zimmers wollte er gleichzeitig sein und den Angreifern entgegenfauchen;
      • die Schwester aber sollte nicht gezwungen, sondern freiwillig bei ihm bleiben;
      • sie sollte neben ihm auf dem Kanapee sitzen, das Ohr zu ihm herunterneigen, und er wollte ihr dann anvertrauen, dass er die feste Absicht gehabt habe, sie auf das Konservatorium zu schicken, und dass er dies, wenn nicht das Unglück dazwischen gekommen wäre, vergangene Weihnachten, –, Weihnachten war doch wohl schon vorüber? – allen gesagt hätte, ohne sich um irgendwelche Widerreden zu kümmern.
      • Nach dieser Erklärung würde die Schwester in Tränen der Rührung ausbrechen, und Gregor würde sich bis zu ihrer Achsel erheben und ihren Hals küssen, den sie, seitdem sie ins Geschäft ging, frei ohne Band oder Kragen trug.“ (5/54)
    • Hier wird noch einmal überdeutlich, wie wenig Gregor seine eigene Situation begriffen hat und wie wenig er auch ahnt oder wahrhaben will, wie weit die Schwester sich inzwischen von ihm weg entwickelt hat.
  • Auf Seite 56 nimmt die Schwester jetzt keine Rücksicht mehr: „so geht es nicht weiter. Wenn ihr das vielleicht nicht einseht, ich sehe es ein. Ich will vor diesem Untier nicht den Namen meines Bruders aussprechen, und sage daher bloß: wir müssen versuchen, es los zu werden. Wir haben das Menschen mögliche versucht, es zu pflegen und zu dulden, ich glaube, es Es kann uns niemand den geringsten Vorwurf machen (…)  Wir müssen es loszuwerden suchen (…) Es bringt euch noch beide um, ich sehe es kommen. Wenn man schon so schwer arbeiten muss, wie wir alle, kann man nicht noch zu Hause diese ewige Quälerei ertragen. Ich kann es auch nicht mehr.“ (56)
  • Erstaunlicherweise reagiert der Vater zurückhaltend und bedauert zumindest, dass man sich mit Gregor nicht verständigen kann und so auch kein „Übereinkommen mit ihm möglich“ ist.
  • Darauf reagiert die Schwester noch radikaler: „Weg muss es, (…) das ist das einzige Mittel, Vater. Du musst bloß den Gedanken loszuwerden suchen, dass es Gregor ist. Dass wir es so lange geglaubt haben, das ist ja unser eigentliches Unglück. Aber wie kann es denn Gregor sein? Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, dass ein Zusammenleben von Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegangen.“
  • Hier merkt man, dass es nicht mehr die geringste Empathie mit dem ehemaligen Bruder gibt, sondern der blanke Egoismus triumphiert. Als Frage bleibt nur, ob diese Haltung nicht immer grundsätzlich vorhanden war, nur in den Zeiten von Gregors Versorgertätigkeit im Hintergrund – oder sagen wir besser: im Untergrund – blieb.
  • Verbunden wird diese Ablehnung mit einer regelrechten Existenzangst, die die Aggressivität noch verstärkt: „So aber verfolgt uns dieses Tier, vertreibt die Zimmerherren, will offenbar die ganze Wohnung einnehmen und uns auf der Gasse übernachten lassen.   Und in einem für Gregor gänzlich unverständlichen Schrecken verließ die Schwester sogar die Mutter, stieß sich förmlich von ihrem Sessel ab, als wollte sie lieber die Mutter opfern, als in Gregors Nähe bleiben“.

Das Ende: zwischen Selbstaufgabe und neuem Leben der Restfamilie

  • Zum überaus nachvollziehbaren Unverständnis für diese Haltung kommt bei Gregor die Einsicht: „Im übrigen drängte ihn auch niemand, es war alles ihm selbst überlassen (…) An seine Familie dachte er mit Rührung und Liebe zurück. Seine Meinung darüber, dass er verschwinden müsse, war womöglich noch entschiedener, als die seiner Schwester.“ (59)
  • Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass bei dieser Selbstaufgabe auch der Körper mitmacht und Gregor bald stirbt.
  • Deutlich wird in dieser Schlussphase seines Lebens, wie sehr sich Gregor und seine Schwester gegenläufig entwickelt haben. Während es mit ihm selbst im Hinblick auf seine Bedeutung für die Familie und sein Selbstbewusstsein immer mehr bergab gegangen ist, hat die Schwester die Führung in der Familie übernommen und ist für die als notwendig betrachtete Selbstbefreiung fast zu jeder Schandtat bereit.
  • Die Trauer der Familie angesichts des Todes von Gregor beschränkt sich auf ein Minimum: „Sie beschlossen, den heutigen Tag zum Ausruhen und Spazierengehen zu verwenden; sie hatten diese Arbeitsunterbrechung nicht nur verdient, sie brauchten sie sogar unbedingt.“
  • Unterwegs besprechen sie die „Aussichten für die Zukunft, und es fand sich, dass diese bei näherer Betrachtung durchaus nicht schlecht waren“. Am Ende finden die Eltern Grete zu einem „schönen und üppigen Mädchen aufgeblüht“, für das man jetzt nur noch einen passenden Ehemann suchen muss. Bezeichnend ist der Schlusssatz in dem die Tochter am Ziel ihrer Fahrt „als Erste sich erhob und ihren jungen Körper dehnte.“

Die Offenheit des Schlusses

Im folgenden beziehen wir noch Überlegungen aus dem Bereich der Wissenschaft ein.

Auswertung eines Buches von Volker Drüke

Im Jahre 2016 ist im Athena Verlag von Volker Drüke das Buch „Kafkas Verwandlung“ erschienen und in ihm gibt es das Kapitel „Die Vollendung des Wandels“ (53-73), in der ausführlich auf die hier behandelte Erzählung Kafkas eingegangen wird. Dabei steht das Verhältnis von Gregor Samsa und seiner Schwester Grete im Mittelpunkt.

  1. Zunächst wird auf den Ersten Weltkrieg und die mit ihm verbundene schlimme Veränderung der Situation für viele Menschen in Europa eingegangen. Auch Kafkas Lebenspläne wurden negativ beeinflusst.
  2. Für die Erzählung die Verwandlung bedeutete die Kriegssituation, dass sie erst 1915, drei 3 Jahre nach ihrer Entstehung veröffentlicht werden konnte.
  3. Für Volker Drüke ist das, was am Anfang der Erzählung geschehen ist, „keine absurde oder skurrile Szenerie innerhalb einer Familie. Absurd wirkt nur der Beginn …“ (59) in Wirklichkeit ist „etwas Bedeutendes“ (59)  in Bewegung geraten, nämlich die Veränderung meiner Familienkonstellation.
  4. Der Verfasser unterscheidet zwischen dem „manifesten“ Text, also dem, was offensichtlich ist, und dem „latenten“, den man sich erst durch aufmerksames Lesen erschließen kann.
  5. Offensichtlich ist die äußerliche Verwandlung Gregors, zu der aber keine entsprechende innerliche kommt. Er begreift nicht, dass das Grundproblem der Familie darin bestanden hat, dass die Eltern durch Gregors Versorger-Existenz „infantilisiert“ worden sind, also die Rolle von Kindern übernommen haben. Gregors Rolle ist durch Parentifizierung entstanden. D.h., er hat die Aufgabe übernommen, die normalerweise Eltern zu übernehmen haben.
  6. Der Verfasser stellt zusammenfassend fest, „dass diese Erzählung von zwei komplett gegenläufigen Bewegungen geprägt wird. Gregor, der einstige Ernährer der Familie, ihr Oberhaupt, wenn man so will, wird an den Rand gedrängt, ist auch ökonomisch nicht mehr vonnöten und deutet akute familiale Entwicklungen falsch, da er von überholten Prämissen ausgeht. Grete, jedes Mädchen, das (…) als Kind bezeichnet wird, obwohl es schon 17 Jahre alt ist, diese Grete ersetzt mehr und mehr den alten Familien-Manager. (…) Gregor täuscht sich: Die Tatkraft der Schwester, ihre Entscheidungsfreude, das Widersprechen gegenüber der Mutter – all dies sind Zeichen ihrer Reifung, ihres Erwachsenwerdens.“ (62/63)
  7. Geradezu als Bruchstelle der Erzählung wird die Stelle hervorgehoben, an der Geräte nach der Kündigung der Zimmer Herren verlangt, dass man im Hinblick auf das, was aus Gregor geworden ist, versuchen müsse, „es loszuwerden“. Dem Vater, der hier erstaunlicherweise noch nach einem „Übereinkommen“ mit Gregor sucht, sagt sie klar: „Du musst bloß den Gedanken loszuwerden suchen, dass es Gregor ist. Dass wir es so lange geglaubt haben, das ist ja unser eigentliches Unglück. Aber wie kann es denn Gregor sein? Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, dass ein Zusammenleben von Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegangen.“ Das ist natürlich eine Position jenseits von allem Verständnis für die wirklichen Nöte eines anderen Menschen.
  8. Nach der Betrachtung der Schluss-Situation, in der die Familie sich auch für einen Wohnungswechsel ausspricht und die Eltern im Hinblick auf ihre Tochter wieder die normale Fürsorgehaltung einnehmen, stellt der Verfasser fest: „Die entscheidende Verwandlung in dieser Erzählung ist die der Grete. Sie ist die Figur, welcher der Titel gilt. Gregor wurde transformiert, aber dieser Verwandlung folgten nur ein kurzes Weiterleben, ein Dahinsiechen und schließlich der Tod. Grete hingegen ist durch Gregors Verwandlung gereift und hat dort Verantwortung übernommen, wo eigentlich die Eltern hätten einspringen müssen. (…) Die Verwandlung widmet sich offenbar vor allem dem Aufblühen, der Verwandlung der Grete Samsa – Vorgängen also, die nur durch Gregors Niedergang möglich wurden.“ (68)

Auswertung der Position Drükes für die Fragestellung

Wenn man nun das, was Volker Drüke herausgearbeitet hat, im Hinblick auf unsere Fragestellung auswerten will, kommt man wohl zu folgendem Ergebnis:

Gregors ungewöhnliches Verhalten, eine Art Aufopferung für den Rest der Familie, hat gerade die natürliche Entwicklung der anderen Mitglieder behindert. Das Ende dieser besonderen Art von Behinderung führten zumindest zu einer teilweisen Wiederherstellung der natürlichen Prozesse. Es ist naheliegend, dass die größte Dynamik sich dabei bei Grete zeigt, denn sie ist ja in einem Alter beschleunigter Reifung. Die Radikalität, mit der sie das loswerden will, was sich mal als ihr Bruder präsentiert hat, wird sicherlich nicht von jedem Menschen gezeigt, liegt aber wohl in den Spielräumen von Überforderungssituationen, die auch eine entsprechende Aggressivität hervorrufen können.

Weiterführende Hinweise

Ein alphabetisches Gesamtverzeichnis unserer Infos und Materialien gibt es hier:
https://textaussage.de/stichwortverzeichnis