Kant, „Was ist Aufklärung“ – Teil 2 der Anmerkungen (Mat5277)

Worum es hier geht:

  • Berühmt und auch in den Details vielen bekannt ist die Einleitung Kants in seine „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“.
  • Veröffentlicht wurde der Essay im Jahr 1784 in der Dezember-Nummer der Berlinischen Monatsschrift.
  • Ausgangspunkt war die Frage des Pfarrers Johann Friedrich Zöllner „Was ist Aufklärung?“, die ein Jahr davor in derselben Zeitung erschienen war.

Anmerkungen zur berühmten Einleitung

Abschnitt 1: Ausgangsdefinition

  • „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Wir sind auf der folgenden Seite darauf genauer eingegangen – besonders auch die Bedeutung dieser Gedanken für uns heute:
https://textaussage.de/immanuel-kant-definition-aufklaerung-bedeutung-heute

Die weiteren Ausführungen Kants nach der Einleitung

Der Text ist z.B. hier zu finden.

Die gliedernden Zwischenüberschriften stammen von uns.

Wir präsentieren hier zunächst unseren Kommentar, wie er uns beim fortlaufenden Lesen in den Sinn kam.

Dies ist als Hilfe für alle gedacht, die erstmals diesen Text lesen – also nicht auf der Basis von viel Vorwissen.  Wir glauben, dass es anderen auch hilft, wenn sie sehen, was die Leserlenkung des Textes mit uns gemacht hat und wie sich dann im Laufe des Textes auch Korrekturen ergeben haben.

Abschnitt 2: Faulheit als Problem der Aufklärung

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.

  • Kant nennt ihr zwei Gründe für Unmündigkeit
    • Faulheit: Man überlässt das eigene Denken und Recherchieren anderen,
    • muss denen dann aber auch vertrauen.
    • Ist dieses Vertrauen nicht gerechtfertigt, wird es gefährlich.
    • Eins der schlimmsten Beispiele ist die Unterschrift unter einer Bürgschaft.
    • Problematisch ist es aber auch, wenn man zum Beispiel einfach das schlechte Urteil über einen anderen Menschen zu seinem eigenen macht. Man denke hier nur an Mobbing. Dabei kann man einem anderen sehr unrecht tun und ihm sogar schaden, eventuell auch sich selbst.
  • Der zweite Grund ist Feigheit und an dieser Stelle wird es sehr gefährlich. Es gibt viele Situationen, in denen man gegebenenfalls nicht weiter nachfragt, weil einem das Vorteile verschafft oder zumindest vor Nachteilen bewahrt.
  • Interessant ist Kants These, dass die Natur den Menschen von fremder Leitung frei gesprochen habe.
    • Man weiß nicht genau, was Kant damit meint.
    • Möglicherweise sieht er in seiner Zeit der Aufklärung und auch für die Zukunft größere Spielräume eigenen Denkens.
    • Wenn man daran denkt, dass das 20. Jahrhundert mit den totalitären Diktaturen Faschismus und Stalinismus viel mehr Beschränkungen der Freiheit mit sich gebracht hat, als sie noch im 18. Jahrhundert üblich waren, ist das zumindest fragwürdig. Aber das konnte Kant natürlich auch nicht wissen. Er durfte seine Zeit für den Höhe- und Glanzpunkt menschlicher Entwicklung halten – ohne die Gefahr erneuter Rückschritte.

 Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.

  • Hier führt Kant einige Beispiele von Vermittlungsinstanzen auf, die einem die eigene Gedankenarbeit abnehmen, wofür man dann allenfalls bezahlen muss.
  • Hier merkt man, dass Kant den Gedanken der Meinungsmacht anderer Leute überhaupt nicht im Blick hat.

Abschnitt 3:  Feigheit als Problem der Aufklärung

Dass der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem dass er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben.

  • Hier geht Kant jetzt auf den Gesichtspunkt der Gefährlichkeit ein.
  • Dass er dabei vor allem an Frauen denkt, hängt mit der kulturellen Situation seiner Zeit zusammen.
    • Frauen hatten in vielerlei Hinsicht weniger Rechte.
    • In Männerkreisen gab es sogar spezielle Vorbehalte gegen Frauen, die selbst denken und dementsprechend auch eine eigene Meinung haben.

Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, dass diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeinhin von allen ferneren Versuchen ab.

  • Seltsamerweise weicht Kant hier auf ein Feld aus, das mit Aufklärung wenig zu tun hat.
  • Statt sich mit Haustieren zu beschäftigen, hätte er lieber stärker darüber nachdenken können, ob die Gefahr des freien Denkens wirklich so gering ist, wie er es darstellt.
  • Man merkt, dass Kant dem Bürgerstand angehört und in einer Blase relativer Freiheit und sozialer Absicherung gelebt hat.
  • Hätte er nur ein bisschen genauer in seine Umgebung geschaut, hätte er sicherlich größere Gefahren für geistige Selbstständigkeit gefunden als nur ein paar „Fallen.“

Abschnitt 4:  Situation des Einzelmenschen: Hindernisse und Problem der Zahl der Mutigen

Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ.

  • Auch hier geht Kant wieder sehr theoretisch vor. Man merkt deutlich, wie problematisch Erörterungen sind, wenn sie nicht konkret und anschaulich durchgeprüft werden.
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    Anmerkung: Inzwischen haben wir zwei Belege von Wissenschaftlern gefunden, die bei Kant auch das Problem der fehlenden Konkretisierung sehen. Das hat aber enorme Auswirkungen für die Relevanz seiner Feststellungen.
    https://schnell-durchblicken.de/das-problem-der-fehlenden-konkretheit-bei-immanuel-kant
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  • In der Praxis dürfte es ganz anders sein:
    • Da ist jemand in einer Firma angestellt und handelt so, wie er es rechtlich und menschlich richtig findet.
    • Und dann wird ihm mehr oder weniger brutal klargemacht, dass man sich in dieser Firma an andere Spielregeln halten muss.
    • Es ist kaum anzunehmen, dass dieser Angestellte diese Einschränkung seines Gewissens und seiner Menschlichkeit als liebgewonnen betrachtet.
  • Auch die Sache mit dem nicht gemachten Versuch ist durch dieses einfache Beispiel zumindest anekdotisch widerlegt. Und es reicht ja ein einzelnes Beispiel, um absolute Aussagen zu widerlegen.

Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Missbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit.

  • Hier wird es jetzt ganz problematisch. Wofür gibt es Satzungen?
    • Doch dafür, damit zum Beispiel in einem Verein kein Chaos herrscht, sondern jeder weiß, woran er sich zu halten hat.
    • Man kann diesen Gedanken ausweiten bis hin zu Gesetzen. Kant präsentiert sich hier ungewollt als Anarchist.
  • Gehen wir über zu den Formen:
    • Darunter verstehen wir in sich logische beziehungsweise vernünftige Zusammenhänge.
    • Vielleicht hätte Kant mal als Maurer arbeiten soll. Er hätte dann schnell gemerkt, wieso die Formel, wie man eine Mauer senkrecht hinbekommt, nicht diskutabel ist.
    • Zumindest nicht von einem, der keine Ahnung hat.

Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist.

  • Auch hier kann man kann nicht folgen.
    • Wer sich an den formellen Bau eine Mauer nicht hält, der würde wohl einen unsicheren Sprung tun, aber nicht, weil er diese Art von Mauerbau noch nicht gewöhnt ist.
    • Er kann gerne 100 mal ein Schiff bauen und mehrere Häuser einstürzen lassen, das ist nicht das Problem der Aufklärung.
  • Daher gibt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun.
  • Hier scheint Kant etwas Richtiges zu sagen.
    • Allerdings muss man diesen Satz natürlich im Zusammenhang seine gesamten Ausführungen sehen.
    • Natürlich kann jeder Mensch gewissermaßen das Rad noch einmal neu erfinden.
    • Aber darum geht es gar nicht.
    • Galilei ist in seiner Zeit nicht gescheitert daran, dass er so wenig selbst gedacht hat, sondern weil sein „sicherer Gang“ den Gang der Mächtigen gestört hat.
  • Was hier auch auffällt, ist die zu große Konzentration auf den Einzelmenschen.
    • Es gibt genügend Fälle in der Geschichte, wo durchaus intelligente Leute durch Konzentration auf sich selbst grandiose Gebäude errichtet haben.
    • Hätten sie aber auf andere gehört, hätten sie möglicherweise Konstruktionsfehler erkannt.
  • Man müsste sich wirklich mal überlegen,
    • ob man diese ganzen Passagen nach der grandiosen Einleitung nicht umschreiben müsste.
    • Dabei wäre ein Schwerpunkt das Problem von Propaganda und Machtmissbrauch durch andere Menschen oder Institutionen
    • und die Möglichkeiten, sich durch Austausch und Zusammenarbeit Alternativen im Sinne von Naturrecht und Rationalität zu erarbeiten.

Abschnitt 5:  Vorteile der Gemeinschaft, der Öffentlichkeit für die Aufklärung

[ Selbstdenker und offene Vormünder sorgen für Verbreitung und anschließende Unterdrückung der reaktionären Vormünder]
Dass aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit lässt, beinahe unausbleiblich.

  • Man merkt, dass Kant noch nie an einer Gruppenarbeit teilgenommen hat. Denn dann wüsste er, welche Prozesse dort ablaufen, die Aufklärung durchaus verhindern können.
  • Nicht von ungefähr hat man bei uns Parteien in die Demokratie eingebaut, weil die im Idealfall Einzelspannungen und Kontroversen ausgleichen und damit gemeinsame Aufklärung ermöglichen.
  • Zugleich macht das Beispiel deutlich, dass in einem solchen Fall auch immer die Gefahr der Manipulation besteht.
  • Manipulation muss gar nicht in böse Absicht geschehen, es reicht, wenn ein Gruppenmitglied über besondere Fähigkeiten verfügt, zum Beispiel über ein gewisses Charisma.
  • Man könnte vielleicht überspitzt formulieren:
    Nur Kants Biografen können vielleicht die Frage beantworten, ob er sich mit seinen Gedanken auf den Meinungsmärkten seiner Zeit vor allem vor größerem Publikum durchgesetzt hätte.
  • Auf jeden Fall merkt man, dass Kant sicher ein grandioser Theoretiker war, aber auch ein für die Zeit typischer optimistischer Intellektueller,  der sich wenig um die konkrete soziale Wirklichkeit kümmert. (Man denke etwa an Prozesse der Gruppendynamik).

Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende sogar unter den eingesetzten Vormündern des großen Haufens finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen selbst zu denken um sich verbreiten werden.

  • Auch hier merkt man, dass Kant wohl nie mit Leuten gesprochen hat, die versucht haben, Gleichgesinnte um sich zu scharen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Da gibt es wohl mehr Schwierigkeiten, als der große Philosoph sich bei seinen Spaziergängen um Königsberg herum vorstellen konnte.
  • Interessant ist der etwas versteckte Hinweis darauf, dass Kant seine Aufklärungsfantasie von den einfachen Menschen ausweitet auf „Vormünder“.
    • Während er ganz am Anfang noch gegen jede Art von geistiger Vormundschaft war, so werden sie sie hier mit ihren Führungsfähigkeiten einfach anerkannt.
    • Sicherlich werden ehemalige Vormünder, die jetzt mehr denken, mehr Möglichkeiten haben, auch Anhänger um sich scharen.
    • Ob daraus allerdings eine dauerhafte Kampfgemeinschaft für gute Ziele wird und ob man sich derer erwehren kann, die über die realen Machtmittel verfügen, bleibt äußerst zweifelhaft.
  • Überhaupt merkt man an allen Ecken und Enden, dass Kant zumindest in diesem Aufsatz nicht die geringste Vorstellung davon hat, in welchem Ausmaß Verhältnisse und Prozesse der Nicht-Rationalität in einer Kultur eine Rolle spielen. Gerade aktuelle Versuche, westliche Rationalität in fremde Kulturen hineinzutragen und auf diese Weise „nation building“ zu erreichen, sind doch wohl meist gescheitert.
  • Also: Kultur und Tradition sowie individuelle und gruppenbezogene Eigenheiten schränken die Möglichkeiten rationaler Aufklärung stark ein.

Besonders ist hierbei: dass das Publikum, welches zuvor von ihnen unter dieses Joch gebracht worden, sie danach selbst zwingt darunter zu bleiben, wenn es von einigen seiner Vormünder, die selbst aller Aufklärung unfähig sind, dazu aufgewiegelt worden;

  • Hier entwickelt Kant auf relativ leichtfertige Art und Weise den Ziel aller Unterdrückten, dass nach einer Revolution eben eine Umkehrung der Verhältnisse erfolge – die Unterdrücker werden unterdrückt oder zumindest ihrer Macht beraucht.
  • Vielleicht sollte man an dieser Stelle Kants Essay aus der Perspektive von George Orwells Roman „Die Farm der Tiere“ lesen.
  • Man kann natürlich auch zu Büchners „Dantons Tod“  greifen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie schnell eine Revolution ihre Kinder „frisst“ und nicht befreit.
  • Natürlich konnte Kant nichts kennen, was nach seiner Lebenszeit kam. Aber es gab genügend Revolutionen in der Geschichte, die nicht so „rational“ und mit gutem „aufgeklärten“ Ausgang abliefen, wie Kant es hier so nebenbei postuliert. Man denke etwa an Oliver Cromwell und die Entwicklungen während und nach seiner Regierungszeit.

so schädlich ist es Vorurteile zu pflanzen, weil sie sich zuletzt an denen selbst rächen, die oder deren Vorgänger ihre Urheber gewesen sind.

  • Auch hier wieder eine These, über die jeder Geschäftsmann lachen wird, der mit seinen Vorurteilen über andere Leute richtig gelegen hat und erfolgreich gewesen ist.
  • Es mag sein, dass ein solcher gewiefter Geschäftsmann am Ende auch mal das Opfer seiner Vorurteile wird. Wenn er sich aber entsprechend vorher abgesichert hat, ist das nur eine Delle in seiner wirtschaftlichen Entwicklung.

Abschnitt 6:  Plädoyer für langsame Entwicklung, gegen Revolution

Daher kann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung gelangen. durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotismus und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden ebensowohl als die alten zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen.

  • Hier fängt Kant scheinbar harmlos an, indem er unsere Hinweise auf Revolutionen vorwegnimmt und den Bedenken zustimmt.
  • Dann aber sein Fehler: Er fragt nicht nach den Ursachen des Scheiterns von Revolutionen,
  • zerstört aber damit erst mal alles, was er vorher gesagt hat:
    • Denn er sieht hier keine „wahre Reform der Denkungsart“
    • stattdessen „neue Vorurteile“
    • die dann zur „Leitbande des gedankenlosen großen Haufens“ werden.
    • Jetzt sind wir aber gespannt, wie der große Philosoph jetzt gedanklich mit diesem „großen Haufen“ fertig wird. Er wird doch auch schon einige Kenntnisse der Anthropologie gehabt haben und wusste sicher auch, dass schon die alten Griechen der Meinung waren, der Mensch sei „aus krummem Holz geschnitzt“.
    • Als staatlich einigermaßen anerkannter Christ wusste er doch auch, dass der Mensch ausgehend von der Bibel nicht als prinzipiell und perspektivisch gut angesehen wird, sondern als erlösungsbedürftig.
    • Da sind wir mal gespannt: Wenn Kant jetzt auf die Religion setzt, könnte seine Argumentation zumindest in sich schlüssig erscheinen.
    • Vielleicht nimmt er ja auch Schiller vorweg, der das Problem des Scheiterns der Französischen Revolution genau ausgehend von dem Gedanken des großen Haufens über das ästhetische Theater lösen wollte. Hat auch nicht geklappt, aber war in sich einigermaßen bedenkenswert.
    • Wie gesagt, wir sind auf Kants Lösung gespannt.

[Minimale Voraussetzung für den Prozess der zur Aufklärung führt: Freiheit für die Vernunft in der Öffentlichkeit]
Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.

  • Auch hier wieder zu wenig Konkretisierungsbreite. Jeder von uns kennt Situationen, in denen wir in einer Gruppe oder sogar größeren Öffentlichkeit gut daran getan haben nich einfach das rauszuhauen, was wir gerade denken. Selbst wenn wir Recht haben.

Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsonniert nicht! Der Offizier sagt: räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsonniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsonniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung der Freiheit.

  • Hier gibt es bei Kant endlich mal wieder Ansätze von Konkretion.
  • Allerdings wird es nicht genau genug ausgeführt, denn zwischen dem Finanzrat und dem Geistlichen dürfte es große Unterschiede im Ausmaß der Gewaltmittel geben, zumindest in der Zeit von Kant.

Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich? welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? – Ich antworte: der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muss jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern.

  • Hier kann man ihm überhaupt nicht folgen. Denn wenn es eine Einschränkung der Gedanken, der Meinungsäußerungsfreiheit gibt, dann im öffentlichen Raum.
  • Privat kann man in vielen Gegenden der Welt durchaus noch denken und zum Teil auch sagen, was man will.
  • Geht man damit aber an die Öffentlichkeit, was dann zu einem Problem für die Mächtigen wird, dann kann das übel enden.
  • Auch hier also wieder ein Beispiel, wo Kant sich in theoretischen Behauptungen verliert, die zumindest genauer ausgeführt werden müssten.

Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauch seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf.

  • Hier kommt jetzt eine wichtige Korrektur. Denn Kant lässt sich mal dazu herab, seine teilweise etwas fragwürdigen Begriffe, zumindest aus heutiger Sicht, zu konkretisieren.
    • Er unterscheidet offensichtlich den Bereich der Universität
    • von dem Bereich, in dem wir als einzelner in einem bestimmten Funktionszusammenhang und damit auch in Abhängigkeit sind.
  • Was auch Herr Kant zu seiner Zeit schon hätte wissen können, ist, dass man als Hochschullehrer auch erst mal in das Amt hineinkommen muss. Und das hängt nicht immer alleine davon ab, wie gut man in Wissenschaft und Lehre ist. Sondern auch, ob man die Gratwanderung beherrscht in beiden Bereichen
    • Man müsste in Kants Biografie mal forschen, wo er so bei Staat und Kirche angeeckt ist, dass er keine offizielle Professorenkarriere machte, sondern Privatgelehrter war und blieb im äußersten Ostzipfel Preußens.
    • Das mag dem Denken sehr förderlich gewesen sein, aber sicher nicht dem direkten Austausch mit zumindest ähnlich Qualifizierten.
    • Damit sind wir wieder bei unseren Bedenken gegenüber den grandiosen Gedankengebäuden, die große Einzelne in Einsamkeit erstellen.
  • In der heutigen Zeit, in der Gesinnung häufig über Rationalität gestellt wird, liest man ständig von Leuten, die im Wissenschaftsbetrieb Probleme bekommen haben, weil sie sich nicht an bestimmte Vorgaben gehalten haben. Das hängt nicht zuletzt auch damit zusammen, dass Universitäten heute zu einem großen Teil von sogenannter Drittmittelforschung abhängig sind. D.h. sie brauchen die Zuwendungen aus der Wirtschaft. Und hier hätte wohl auch Kant zugestimmt, dass das eher den Firmenzielen förderlich ist als der wissenschaftlichen Wahrheit.
  • Man muss nur mal an medizinische Forschung denken, wie sehr da ein Wissenschaftler unter Druck gerät, wenn er ungünstige Ergebnisse präsentieren muss.
  • Inwieweit Kant das auch zu seiner Zeit schon hätte wissen können, mögen seine Biografen beurteilen

Nun ist zu manchen Geschäften, die in das Interesse des gemeinen Wesens laufen, ein gewisser Mechanism notwendig, vermittels dessen einige Glieder des gemeinen Wesens sich bloß passiv verhalten müssen, um durch eine künstliche Einhelligkeit von der Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet, oder wenigstens von der Zerstörung dieser Zwecke abgehalten zu werden. Hier ist es nun freilich nicht erlaubt, zu räsonnieren; sondern man muss gehorchen.

  • Hier deutet Kant zumindest an, dass es Bereiche gibt, wo die Regierung z.B. „Einhelligkeit“ will, auch wenn die nur eine „künstliche“, also durch Konformitätsdruck erzwungene ist.
  • Allerdings dehnt Kant diese Überlegungen nicht auf den Wissenschaftsbetrieb aus
  • Das mag für seine Zeit weitgehend gegolten haben.
  • Die Hypothese ist aber, dass es wohl auch im 18. Jahrhundert schon Bereiche gab, gegen die in der Kirche oder von Seiten des Staates Vorbehalte herrschten und die deswegen nur im Sinne ausreichender „Einhelligkeit“ gelehrt werden durften.

So fern sich aber dieser Teil der Maschine zugleich als Glied eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaft ansieht, mithin in der Qualität eines Gelehrten, der sich an ein Publikum im eigentlichen Verstande durch Schriften wendet: kann er allerdings räsonnieren, ohne dass dadurch die Geschäfte leiden, zu denen er zum Teile als passives Glied angesetzt ist.

  • Hier kommt jetzt wieder diese theoretische Einschränkung der Grenzen, die zugleich eine Ausweitung der Möglichkeiten der Aufklärung bedeutet, was man historisch prüfen müsste.
  • Was Kant sich natürlich nicht vorstellen konnte ist, dass eines Tages Zeitungen nicht mehr in Konkurrenz zueinander stehen, also echte Vielfalt herrscht, sondern dass es eine erstaunliche Übereinstimmung der großen Medien gibt. Ein kluger Kopf soll mal gesagt haben, dass man eine Diktatur daran erkennt, dass die Zeitungen dasselbe schreiben wie das, was die Regierung sagt. Zumindest im alten Ostblock ist das ja wohl so gewesen.
  • Dazu kommt das Phänomen, dass heute einzelne Menschen so viel Geld haben, dass sie sich problemlos eine Zeitung kaufen können. Wenn sie dann noch gleich reiche Freunde haben, die die anderen Zeitungen kaufen – dann ist die vierte Gewalt im Staat ziemlich ausgefallen.

Abschnitt 7:  Beispiel für private Freiheit bei öffentlicher Loyalität

So würde es sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinen Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muss gehorchen. Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt werden, als Gelehrter über die Fehler im Kriegesdienste Anmerkungen zu machen und diese seinem Publikum zur Beurteilung vorzulegen.

  • Kant bringt hier das Beispiel eines Offiziers, der
    • im Dienst gehorchen muss,
    • als Gelehrter aber angeblich über „Fehler im Kriegesdienste“ Anmerkungen machen kann.
  • Muss eine schöne Zeit gewesen sein, in dem preußische Offiziere Vorträge über „Fehler im Kriegsdienste“ halten – wohlgemerkt in der Öffentlichkeit, gewissermaßen als Privatmann.
  • Ob das der Regierung gefällt, dürfte fraglich sein, vor allem, wenn Angehörige der Armeen anderer Staaten im Publikum sitzen.

Der Bürger kann sich nicht weigern, die ihm auferlegten Abgaben zu leisten; sogar kann en vorwitziger Tadel solcher Auflagen, wenn sie von ihm geleistet werden sollen, als ein Skandal (das allgemeine Widersetzlichkeiten veranlassen könnte) bestraft werden. Eben derselbe handelt demungeachtet der Pflicht eines Bürgers nicht entgegen, wenn er als Gelehrter wider die Unschicklichkeit oder auch Ungerechtigkeit solcher Ausschreibungen öffentlich seine Gedanken äußert.

  • Dann das Beispiel eines steuerpflichtigen Bürgers.
  • Da kann man Kant sicher folgen, dass Äußerungen auf dem Amt, vielleicht noch verbunden mit Beleidigungen von Amtspersonen eher Folgen haben, als allgemeine Überlegungen als Gelehrter.

Ebenso ist ein Geistlicher verbunden, seinen Katechismusschülern und seiner Gemeinde nach dem Symbol der Kirche, der er dient, seinen Vortrag zu tun; denn er ist auf diese Bedingung angenommen worden. Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte in jenem Symbol und Vorschläge wegen besserer Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens dem Publikum mitzuteilen.

  • Was Religionsfragen angeht, dürften Kants Ausführungen auf schwachen Füßen stehen.
  • Es ist schwer vorstellbar, dass ein Pfarrer
    • am offenen Grabe bei einer Beerdigung die Auferstehung des Toten den Verwandten verspricht
    • und beim Vortrag an der Uni als Privatdozent das in Frage stellt.
    • Religiöse Fragen haben eine andere Qualität als als Steuerfragen.

Es ist hiebei auch nichts, was dem Gewissen zur Last gelegt werden könnte. Denn was er infolge seines Amts als Geschäftträger der Kirche lehrt, das stellt er als etwas vor, in Ansehung dessen er nicht freie Gewalt hat nach eigenem Gutdünken zu lehren, sondern das er nach Vorschrift und im Namen eines anderen vorzutragen angestellt ist. Er wird sagen: unsere Kirche lehrt dieses oder jenes; das sind die Beweisgründe, deren sie sich bedient. Er zieht alsdann allen praktischen Nutzen für seine Gemeinde aus Satzungen, die er selbst nicht mit voller Überzeugung unterschreiben würde, zu deren Vortrag er sich gleichwohl anheischig machen kann, weil es doch nicht ganz unmöglich ist, dass darin Wahrheit verborgen läge, auf alle Fälle aber wenigstens doch nichts der inneren Religion Widersprechendes darin angetroffen wird. Denn glaubte er das letztere darin zu finden, so würde er sein Amt mit Gewissen nicht verwalten können; er müsste es niederlegen. Der Gebrauch also, den ein angestellter Lehrer von seiner Vernunft vor seiner Gemeinde macht, ist bloß ein Privatgebrauch: weil diese immer nur eine häusliche, obwohl noch so große Versammlung ist; und in Ansehung dessen ist er als Priester nicht frei und darf es auch nicht sein, weil er einen fremden Auftrag ausrichtet. Dagegen als Gelehrter, der durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt, spricht, mithin der Geistliche im öffentlichen Gebrauche seiner Vernunft genießt einer uneingeschränkte Freiheit, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen.

  • Nicht von ungefähr wird Kant hier sehr weitschweifig.
  • Die Vorstellung vom Pfarrer als „Geschäftsträger“ der Kirche dürfte wohl mehr als ungewöhnlich sein, wie das Beispiel mit der Beerdigung schon gezeigt hat.
  • Auch die Leichtfertigkeit, mit der Kant das Ausscheiden aus dem Kirchendienst als Möglichkeit präsentiert, ist wirklichkeitsfremd – bei Familie mit damals durchaus 6 Kindern und einer mehr als ungewissen Zukunft.

Denn dass die Vormünder des Volks (in geistlichen Dingen) selbst wieder unmündig sein sollen, ist eine Ungereimtheit, die auf Verewigung der Ungereimtheiten hinausläuft.

  • An dieser Bemerkung wird deutlich, wie sehr Kant die Dinge logisch anfasst, ohne die praktische Realität des Lebens genügend zu beachten.
  • Natürlich gibt es Abhängigkeiten, die in Unmündigkeit enden, auf allen Stufen.
  • Es könnte sogar so sein, dass die Unmündigkeit nicht einmal bei der höchsten damaligen Instanz, dem König aufhört – das merkt er spätestens nach der Thronbesteigung, welchen Zwängen er auch unterliegt.
  • Sonst hätte Ludwig XIV. als Sonnenkönig sich nicht alle Zähne ausbrechen lassen, weil das angeblich dem Staatswohl diente. Der Herrscher musste gesund bleiben – und Zähne galten damals als Krankheitsquelle.
    Wer es nicht glaubt, hier gibt es nähere Infos dazu.

Zu den verschiedenen Teilen des Essays „Was ist Aufklärung?“

Weitere Infos, Tipps und Materialien

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