Karl Krolow, „Liebesgedicht“ – erster Eindruck

Das Problem mit einer bestimmten Art von Gedichten

Immer wieder werden im Deutschunterricht Gedichte präsentiert, die bei den meisten Schülern eher Frustration und/oder Angst Gefühle auslösen. Vor allem, wenn sie mit Analyseaufgaben verbunden werden.

Wichtig ist hier:

Es geht um die Schule, also die Konfrontation von jungen Menschen mit Texten aus anderen Zeiten, die von literarischen Profis erstellt worden sind. Das bedeutet, dass in ihnen eine Menge an Arbeit, Wissen und Erfahrung steckt, gegebenenfalls auch Rücksicht auf Kritiker oder die Autoren-Peergroup. D.h., dass Schüler behutsam an solche Texte heran geführt werden sollten, weil sich Autor und Leser zum Teil außerhalb jeder Rufweite befinden.

Vorschlag eines Gesprächs auf Augenhöhe mit  dem Text

Im folgenden soll ein Verfahren ausprobiert werden, bei dem mit einer spontanen Reaktion begonnen wird. D.h.: Das Gedicht eröffnet gewissermaßen mit einem Monolog ein Gespräch und der Leser hat die Möglichkeit und auch das Recht, sich Zeile für Zeile damit auseinander zu setzen.

Natürlich kann das Gedicht auf Einwände und Fragen nicht antworten, aber es handelt sich um eine sogenannte hermeneutische Auseinandersetzung. Dabei ergibt sich ein gewisses Verständnis, das wird anschließend am Text erprobt und im Laufe der Zeit kann sich ein immer besseres Verständnis heraus bilden.

Das geht natürlich nur bei Gedichten, die die ernsthafte Absicht haben, mit dem Leser ein Gespräch auf Augenhöhe zu führen. Denn natürlich gibt es auch Gedichte, in denen ein Autor vor allen Dingen sich selbst mit seinen speziellen Erfahrungen, Ideen und Gefühlen präsentiert und gar nicht die Absicht hat, den Leser dort mit einzubeziehen.

Erster Eindruck beim Lesen des Gedichtes

Dann schauen wir mal kurz an, was dieses Gedicht zu sagen hat wie man darauf reagieren kann. Vor allen Dingen ist interessant zu sehen, ob sich im Laufe der Zeit ein besseres Verständnis heraus bildet.

Da Karl Krolow bis 1999 gelebt hat, unterliegt sein Text noch dem Urheberrecht. Wir verweisen also nur auf die Zeilen, ansonsten gibt es viele Möglichkeiten, das Gedicht zu finden, vielleicht liegt es demjenigen ja auch schon vor, der sich diese Seite anschaut.

Überschrift

  • Der Titel „Liebesgedicht“ ist nicht besonders originell, erweckt damit auch sehr bekannte Erwartungen, die bei jedem Leser unterschiedlich sind.
  • Auf jeden Fall geht es um einen Text, der sich in der Regel an das Objekt der Gefühle richtet und das Verhältnis näher beschreibt.

Strophe 1 – Zeile 1-3

  • Die ersten drei Zeilen machen schon mal grundsätzlich deutlich, welche Situation vorliegt. Das lyrische Ich redet nur „mit halber Stimme“, also entweder aus Rücksichtnahme leise oder aus einem geringen Selbstbewusstsein heraus, das nicht über mehr Kraft verfügt.
  • Das geliebte Gegenüber ist offensichtlich so weit entfernt, äußerlich oder innerlich, dass das lyrische Ich sich die bange Frage stellt, ob es gehört wird.
  • Damit wird die Ausgangssituation auch schon eindeutiger, denn diese Frage ergibt sich natürlich nicht, wenn man Rücksicht nimmt etwa auf eine schlafende Geliebte.
  • Wen von einem „bitteren Kräutergesicht“ die Rede ist, dann muss sich das wohl auf das lyrische Ich beziehen. Da nicht davon auszugehen ist, dass es hier um eine anatomische Besonderheit geht, soll das wohl ausdrücken, dass das lyrische Ich möglicherweise eine bittere Erfahrung gemacht hat und kaum zufrieden ist mit der Situation.
  • Um was es geht oder woran das liegt, bleibt offen.
  • Das ist für ein Gedicht gar nicht schlecht, weil sich jeder Leser jetzt selbst in die Situation einbringen oder einfühlen kann.

Strophe 1, Zeilen 4-6

  • Die Zahlen 4-6 gehen dann genauer auf die Sprechsituation ein.
  • Offensichtlich wird der Morgen und die Atmosphäre, die damit verbunden ist, als angenehm empfunden.
  • Dass dieser Morgen eine rötliche Farbe hat, kann mit der Wettersituation zusammenhängen.
  • Dass der Morgen dem lyrischen Ich wie ein Fisch „mit bebender Flosse“ vorkommt, ist ein bisschen schwierig, weil ein rötlicher Morgen in der Regel keine Bewegung zeigt.
  • Die scheint sich eher auf das lyrische Ich zu beziehen, das aus unbekanntem Grund nicht nur ein bitteres Gesicht macht, sondern auch zumindest leicht am Zittern ist.

Strophe 2

  • Die zweite Strophe besteht aus dem Versuch, die Schönheit des Gegenübers zu beschreiben.
  • Spätestens jetzt wird es sehr schwierig, dass völlig offen bleibt, um was für ein Gegenüber es sich handelt. Man denkt spontan an ein menschliches Wesen, es könnte aber natürlich auch der Morgen sein.
  • Was auf jeden Fall erstaunt, ist, dass das lyrische Ich seine Liebesbeschreibungen nicht an einen Partner richtet, sondern in alle möglichen Richtungen verstreut.
  • Ganz allgemein wird die Schönheit des Gegenübers betont vor „Feldern voll grüner Pastinaken“. Wenn man mal kurz sich informiert, wie diese Pflanzen aussehen, wird man skeptisch angesichts dieser Liebeserklärung.
  • Auch dass die Haut „kühl und trocken“ ist, spricht nicht unbedingt für sie und eine normale Liebesbeziehung.
  • Dass betont wird, diese Liebeserklärung gehe aus von einem Ort „zwischen den Häusernwürfeln“ einer Stadt, in der das lyrische Ich lebt, hilft auch nicht viel weiter, sondern verstärkt den Eindruck, dass es nicht um einen Menschen geht, sondern um den Eindruck von einer Umgebung mit der entsprechenden Atmosphäre.
  • Ganz schwierig wird es mit dem sanften und sicheren Blick der Vögel. Denn wer auch immer sie beobachtet – und es geht hier um Vögel allgemein und nicht um den Kanarienvogel im Käfig – der weiß, dass Vögel keinen Grund haben „sanft und sicher“ in die Gegend zu schauen. Dafür sind sie viel zu sehr bedroht und ständig auf der Flucht.
  • Dass der Nacken aus Luft ist,  ist entweder kein gutes Zeichen für die Beziehung oder eine völlig unnötige Feststellung, wenn es hier um eine Liebeserklärung an die luftige Umgebung ist.
  • Und was die Taube angeht, ist die Art, wie sie einbezogen wird auch ziemlich fragwürdig. Denn die Farbe Blau wird normalerweise nicht mit Laub verbunden, es sei denn bei Expressionisten. Und Maschen sind im Zusammenhang mit einer Taube eher eine Bedrohung, man denke an ein Netz.

Strophe 3

  • Zu Beginn der letzten Strophe wird man als Leser hoffnungsvoller, denn das Gegenüber hat anscheinend ein Gesicht und hebt es auch noch, was für eine Situation im Doppelbett spricht.
  • Woher plötzlich eine Ziegelmauer kommt, bleibt das Geheimnis des Autors. Aber als Leser gibt man sich gerne Mühe und stellt sich vor, dass sie sich um ein Schlafzimmer mit Ziegelwand handelt.
  • Dann bricht es regelrecht aus dem lyrischen Ich heraus: Es muss gleich zweimal und dann am besten in Form eines Chiasmus seine Begeisterung über die Schönheit des Gegenübers ausdrücken.
  • Dass der Schlaf „wasserkühl“ gewesen ist, korrespondiert mit einer anderen „Kühl“-Stelle und könnte eine Erklärung dafür sein, dass man morgens ein bitteres Gesicht hat.
  • Dann wird auch noch mal wieder die Redesituation aufgenommen. Vielleicht ist die Stimme genauso brüchig wie Soda, wovon plötzlich die Rede ist. Auf jeden Fall erinnert die Nacht das lyrische Ich plötzlich an Soda und zwar an eins, das zerbricht, was auch nicht gerade für viel Glück steht.
  • Am Ende beschränkt das lyrische Ich sich nach seinen Begeisterungsergüsse auf die einfache Feststellung, wie sich der morgen präsentiert.

Auswertung des Gesprächs mit dem Text

Die Auseinandersetzung mit dem, was im Gedicht präsentiert wird, hat letztlich lauter Unklarheiten präsentiert. Denen kann man zwar einen Sinn unterstellen, zum Beispiel, dass das Objekt der Liebe irgendwie nicht so richtig präsent ist, so dass man diese ganzen Liebeserklärungen in alle Richtungen verstreuen muss, aber nicht an das geliebte Gegenüber.

Auch einige andere Indizien sprechen dafür, dass das lyrische Ich zwar ständig von Schönheit spricht, aber in der Realität nicht viel damit anfangen kann, sondern letztlich genauso kalt bleibt wie der Leser, falls der sich nicht fürchterlich über dieses Gedicht aufgeregt hat und nur aus dem Grunde erhitzt ist.

Überlegungen zur weiteren Vorgehensweise

Ganz gleich, in welche Richtung man dieses Gespräch mit dem Text noch weiter entwickeln oder auch iInfragestellen kann, hat sich gezeigt, dass es sehr vernünftig ist, in der Schule erst mal mit einer solchen, wenn auch vielleicht unvollkommenen Auseinandersetzung, zu beginnen.

Denn immerhin liegt hier einiges an Beobachtungen und Überlegungen vor, die dann von anderen ergänzt werden und insgesamt zu einem besseren Verständnis führen können.

Anschließend kann man dann gerne zur Ebene der Profis übergehen und einbeziehen, was Experten für den Autor oder für diese Art von Gedichten noch an Erkenntnissen beizutragen haben.

Diese kann man aber nicht von  Schülern erwarten und darum sollte man die Experten nur einbeziehen, wenn es gewünscht wird oder man daran etwas zeigen kann, was Schülern nicht das Gefühl gibt, dass sie auch schon Fachleute sein oder es überhaupt werden müssen.

Der Deutschunterricht hat nicht die Aufgabe, Germanisten heranzubilden, sondern jungen Menschen Freude an der Auseinandersetzung mit Literatur nahezubringen. Dazu hat hoffentlich dieser Ansatz beigetragen. Das Gedicht selbst muss das nicht tun.

Weiterführende Hinweise