Marie Luise Kaschnitz, „Hochsommer“ – ein Naturgedicht, dessen Leserlenkung zum Widerspruch auffordert (Mat5428)

Worum es hier geht:

Vorgestellt wird das Gedicht „Hochsommer“ von Marie Luise Kaschnitz. Dabei wird vor allem auf die sich ergebende Leserlenkung geachtet.

Zum Begriff der „Leserlenkung“

Seit einiger Zeit taucht häufiger der Begriff „Leserlenkung“ auf, wenn es um die Interpretation von Gedichten geht.

Gemeint ist damit, dass ein Text, den man liest, etwas mit dem Leser macht. Bei ihm bildet sich eine erste Vorstellung, worum es geht und in  welche Richtung es deutet. Das verändert sich dann beim weiteren Lesen, bis man am Ende eine (vorläufig) endgültige Vorstellung hat.

Vorläufig deshalb, weil man eigentlich immer noch Neues entdeckt oder einzelne Textstellen anders wahrnimmt.

Der Vorteil der Beachtung der Leserlenkung ist, dass von vornherein eine Art Gespräch mit dem Text stattfindet. Der Leser ist also wirklich der Betrachter, in dessen Augen das Kunstwerk erst wirklich komplett ist.

Leserlenkung in Überschrift und Strophe 1

  • Die Überschrift gibt schon mal einen wichtigen Hinweis. Als Leser weiß man dann, worauf sich das Folgende bezieht.
  • In der ersten Strophe ist dann auch gleich von der Erntezeit die Rede.
  • Außerdem wird hervorgehoben, dass in dieser Jahreszeit eine gewisse Ruhe in der Natur einkehrt.
  • Am Ende dann ein dazu nicht so ganz passender Hinweis auf das Wachstum der Algen auf runden Wasseroberflächen.  Das endet dann sogar in der Verwendung eines negativen Wortes im Hinblick auf die dabei entstehende Situation („Erstickt“)
  • Zwischenfazit im Hinblick auf Leserlenkung:
    • Man ist gespannt, ob auch im weiteren Verlauf des Gedichtes nicht nur der Aspekt Ruhe eine Rolle spielt, sondern auch noch das Motiv des Todes.

Leserlenkung in Überschrift und Strophe 2

  1. Der Brunnenschale Wasser geht zur Neige,
  2. Der Efeu streckt die kleine Totenhand.
  3. Im Garten schlingen Ranken sich und Zweige
  4. Zu finstrer Wand.

 

  • In der zweiten Strophe ist es tatsächlich so, dass weitere negative Tendenzen hinzukommen.
  • Zum einen geht das Wasser als Basis für jede Art von Leben verloren.
  • Und neben der grünen Pflanzendecke auf dem Wasseroberflächen wrd dem Efeu jetzt auch sogar noch eine „kleine Totenhand“ zugeschrieben.
  • Auch der Schluss der Strophe hebt das nicht auf, denn da ist von Schlingen die Rede, was zu dem Wort „erstickt“ weiter oben passt.
  • Außerdem ist von „finstrer Wand“ die Rede, was möglicherweise die Gesamtstimmung des lyrischen Ichs widerspiegelt. Die überträgt sich zunehmend auch auf den Leser.

 

Leserlenkung in Überschrift und Strophe 3

 

  • Zu Beginn der dritten Strophe wird das positive Signal der Ernte wieder aufgenommen.
  • Überraschenderweise wird jetzt ein Fremder ins Spiel gebracht, der in den Garten tritt. Der bestimmte Artikel deutet an, dass es hier um jemanden geht, den das lyrische Ich kennt.
  • Was dann folgt, kann man auch nur als negativ empfinden. Denn dieser Fremde zerstört auch anscheinend.
  • Am Ende dann eine Anspielung auf das christliche Abendmahl, bei dem ja auch der Wein für Blut steht.

Leserlenkung: Man ist durch das Auftreten des Fremden und die Einbeziehung von Blut irritiert und erwartet, dass das noch eine Rolle spielt.

Leserlenkung in Überschrift und Strophe 4

  • In der vierten Strophe dann wieder eine ganz normale Beschreibung von Naturphänomenen, wie man sie im Hochsommer problemlos vorfinden kann, wo es Schluchten oder andere Vertiefungen gibt.
  • Dann aber wird der Glanz des Regens wieder mit etwas verbunden, was nach Verwesung aussieht.
  • Passen dazud dann am Ende, die Fliegenschwärme, die hier in einer solchen Situation viel Nahrung finden.
  • Leserlenkung: Man weiß nicht so recht, wie das alles zusammenpasst. Irgendwie kann das lyrische Ich sich nicht entscheiden, ob es sich wohlfühlen will oder nicht.

Leserlenkung in Überschrift und Strophe 5

 

  • Die fünfte und abschließende Strophe nimmt dann den Gedanken der Dämmerung und des Vergehens wieder auf und bezieht das auf Menschen, die sich lieben.
  • Warum sie jetzt ganz plötzlich die Zeit als kurz empfinden, sich „in wilden Ängsten umgreifen“ und „dumpf und blind“ sind, bleibt der sehr verengten Sicht des lyrischen Ichs überlassen.
  • Denn es hängt doch sehr von der konkreten Situation ab, wie die Liebenden sich im Hochsommer fühlen
  • Leserlenkung: Spätestens hier dürfte sich Protest und Widerstand einfinden.
  • Übrigens wird wohl jeder Bauer froh sein, wenn seine Ernte wirklich gut eingebracht werden kann.
  • Am Ende dann der Hinweis auf den nahenden Herbst.
  • Danach wieder eine sehr menschliche Perspektive auf die Natur: Denn die Früchte wollen natürlich nicht reifen, sie tun das einfach und denken höchstens – um die Personifikation konsequenz zu Ende zu führen – mit Freude daran, dass das, was jetzt als Samen in den Boden geschickt wird, im nächsten Frühjahr neues Leben hervorbringt.
  • Dass die Menschen diesen Samen anderweitig, nämlich zu ihrer Ernährung verwenden, liegt auch kaum in der Zielvorstellung der Pflanzen..
  • Am Ende dann wieder die lapidare Aufnahme dessen, was zum Wind schon mal gesagt worden ist.
  • Leserlenkung: Spätestens hier werden die meisten Menschen, die nicht schon im Altersheim leben, diesem Gedicht nicht mehr folgen wollen – und Schülis schon gar nicht.
  • Siehe dazu die wunderschöne Kurzgeschichte „Sprache ist auch ein Ort der Freiheit – man muss ihn nur finden und nutzen“ von Anders Tivag.

 

Insgesamt ein Gedicht,

  • das Naturphänomene zwischen Sommer und Herbst beschreibt.
  • Dabei wird allerdings eine sehr enge Sicht des lyrischen Ichs deutlich.
  • Ein natürlicher Schritt im Zyklus des Lebens wird eher negativ gesehen.
  • Dazu wird den Menschen eine regelrecht unchristliche Hektik zugeschrieben. So nannte man das umgangssprachlich früher, wenn man die Hektik als unangebracht empfand.
  • Die Anspielung auf das Christentum ist ja im Gedicht in sehr viel ernsthafterer Weise schon enthalten (Brot und Wein).
  • Offensichtlich wird hier ein Lebensgefühl ausgedrückt, dass zumindest ansatzweise in Richtung Depression geht.

 

Anregungen:

  1. Man kann dieses Gedicht natürlich auch im Barocksinn umgestalten. Da gäbe es dann nämlich über Vergänglichkeit und Tod hinaus noch eine Perspektive, die schon der irdischen Gegenwart ein Element Hoffnung beilegt.
  2. Oder man schreibt eben ein Gegengedicht – vor allem aus der Sicht von Schülis, die im Hochsommer vor allem an die kommenden Ferien denken. Im Urlaub werden sie sich wohl kaum einem solchen Gedicht widmen.
  3. Man kann dieses Gedicht übrigens gut mit einem Text von Bertolt Brecht vergleichen:
    „Entdeckung an einer jungen Frau“
    https://textaussage.de/brecht-entdeckung-an-einer-jungen-frau

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