Kimia Tivag, „Ein wahrer Freund“ (Mat9473-ewf)

Worum es hier geht:

Präsentiert wird eine Geschichte, die hilft, einen besonderen Aspekt von Freundschaft besser zu verstehen.

Entstanden ist sie, nachdem die Verfasserin das folgende Gedicht aus der Zeit der Aufklärung gelesen hatte.
https://textaussage.de/5-min-tipp-gellert-der-wahre-freund

Aber keine Sorge – diese Geschichte ist sehr modern – und kann jungen Menschen helfen, bei ihrem Umfeld zwischen verschiedenen Erwartungen und Bedürfnissen zu unterscheiden.

Hier ein Screenshot

 

Und hier eine Druckvorlage

Mat9473-ewf Kimia Tivag Ein wahrer Freund

Hier nun der Text im Wortlaut

Kimia Tivag

Ein wahrer Freund

 

„Solche Freunde brauche ich nicht.“

Der Satz fiel in den Ferien, neben dem Fahrradständer vor dem Fitnessstudio. Leon hatte die Sporttasche schon geschultert, als hätte er gerade eine schwere Tür hinter sich geschlossen. Jonas stand nur da und sah ihm nach. Es war ein kurzer Moment – aber einer, der wehtat.

Erst später, zu Hause, erinnerte Jonas den Gesprächsanfang. Leon hatte wissen wollen, ob er Nils einen größeren Geldbetrag leihen solle. Etwas Dringendes, etwas Versprochenes – so hatte Nils es dargestellt. Jonas hatte gezögert. Nicht aus Geiz, sondern wegen Nils’ Art, die mal laut, mal begeistert, mal vergesslich wie ein offenes Fenster wirkte.

„Ich wäre vorsichtig“, hatte Jonas leise gesagt. „Nils meint vieles ehrlich – aber nicht alles hält lange.“

Leons Blick war hart geworden. „Du sagst das nur, weil ich Geld habe und du nicht.“

Jonas hatte geschluckt. „Wenn du glaubst, dass ich so denke, dann weiß ich nicht, was unsere Freundschaft bisher war.“

Da kam der Satz. Kurz, scharf, endgültig. „Du willst die Wahrheit nicht hören. Solche Freunde brauche ich nicht.“

Und in den Tagen danach war einfach Stille.

*   *   *

Eine Woche später. Die Umkleide des Studios war kühl, der Boden gedämpft. Leon saß auf der Bank, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Als Jonas hereinkam, hob Leon nicht einmal den Kopf.

„Er hat’s nicht zurückgegeben“, sagte er schließlich. „Nicht mal daran erinnert, dass wir was ausgemacht hatten.“

Jonas setzte sich langsam neben ihn. Kein Triumph, kein Lächeln.

„Das tut dir weh“, sagte er nur.

Leon nickte. Ein leiser, müder Atemzug.

„Ich hätte auf dich hören sollen.“

Jonas zog die Schnürsenkel seiner Sportschuhe fest. „Schon vor ein paar hundert Jahren hat einer ein Gedicht darüber geschrieben“, sagte er ruhig. „Es heißt *Der wahre Freund*. Von Gellert. Ich hab mich einfach daran gehalten.“

Leon sah kurz zu ihm hin – nicht entschuldigend, nicht flehend, sondern einfach ehrlich.

Sie standen auf.

Sie gingen zu den Geräten.

Und nahmen zwei Plätze nebeneinander.

aus: Durchblicke bis auf Widerruf – Online-Zeitschrift für Schule und Studium – 11/2025

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