Eine kritische Sicht auf Büchners „Woyzeck“ als Schullektüre (Mat4009)

Immer wieder wird Schülern von engagierten Lehrkräften die Aufgabe gestellt, die Bedeutung einer Lektüre für ihr Leben, aber auch besonders den Einsatz in der Schule zu erörtern.

In der Regel wird eine positive oder zumindest gut begründete Kritik erwartet.

Hier eine Stellungnahme, die das versucht:

Woyzeck als Schullektüre

  • In Büchners Dramenfragment wird soziale Not, die es immer wieder gibt und geben kann, auf recht extreme Art und Weise dargestellt.
  • Das kann man schwer in die heutige Zeit übertragen, in der solche absurden Menschenversuche kaum vorstellbar erscheinen. Zumindest werden sie in der Öffentlichkeit nicht sichtbar.
  • Da erscheint es sinnvoller, einen Roman oder ein Drama zu besprechen, das von heute aus besser nachvollziehbaren Problemsituationen ausgeht.
  • Zum Beispiel sind nach wie vor allein erziehende Mütter in großen Schwierigkeiten. Dazu kommen Probleme wie Obdachlosigkeit.
  • Hin und wieder sind Bilder im Fernsehen zu sehen, auf denen Menschen in anderen Ländern in Zelten oder gar ihren Autos schlafen müssen.
  • Sich damit zu beschäftigen hat den Vorteil, dass man nicht erst mal einen Transfer von damals auf heute machen muss. Denn dann beginnen die Probleme ja erst. Letztlich könnte man provozierend sagen: Die Zeit der Lektüre eines Dramas, das die in zwischen zumindest bei uns überwundenen Probleme der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts präsentiert, ist dann verlorene Zeit.
  • Um eine positive Alternative zu nennen: Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ präsentiert sich ganz offen als Parabel, also als ein Beispiel, bei dem man in einer fiktiven Welt Probleme identifizieren kann, die auch in der heutigen Zeit noch eine Rolle spielen: Menschlicher Egoismus, Ungerechtigkeit in der Einkommens- und Besitzverteilung, zu wenig Chancen für viele Menschen, die gerne Güte zeigen würden, denen dafür aber die materiellen Voraussetzungen fehlen.
  • Aber das Stück deutet auch Lösungsmöglichkeiten an, über die diskutiert werden kann, von der Bedeutung des Glücks über die Wichtigkeit kreativer Einfälle bis hin zur Unterstützung durch Freunde.
  • Sehr interessant ist die Figur des Barbiers, der neben hemmungslosem Ausbeutungskapitalismus eben auch menschliche Züge zeigt. Inwieweit die echt sind, auch der gezeigte Verzicht auf persönliche Interessen gegenüber Shen Te kann diskutiert werden.
  • Und schließlich gibt es zumindest ansatzweise auch Gewaltfantasien im „Lied von der Wehrlosigkeit der Götter und Guten“.
  • Warum soll man sich angesichts von so viel Substanz und durchaus auch Lesefreude, die Anlage und Darstellung des Stücks ermöglichen, mit einem Stück beschäftigen, das in die Abgründe der Vergangenheit führt.
  • Büchners „Woyzeck“ erfreut vor allem Germanisten, weil dort die offene Form des Theaters ihrer Meinung nach idealtypisch durchgespielt wird. Dass das Stück aber ein Fragment ist und von daher keine Autorenabsicht sicher deutlich machen kann, wird dabei nicht berücksichtigt.
  • Wie schon angedeutet, wird hier eine Position vertreten, die sicher qualifizierten Widerspruch herausfordert. Aber der kann ja auch wiederum Freude bereitet 🙂

Konstruktiver Nachtrag 🙂

Inzwischen sind wir ein bisschen weiter – haben uns noch intensiver mit „Woyzeck“ beschäftigt und vor allem mit der Frage: „Wo ist das Positive?“ Gemeint ist damit: Wo sind Stellen, die man aus heutiger Sicht noch als aktuell empfinden und diskutieren kann.

Hinweise zu den ersten neun Szenen gibt es zum Beispiel im folgenden Video:

https://textaussage.de/woyzeck-inhalt-zitate-fragen

Anregungen und Fragen:

  1. Inwieweit gibt es auch heute noch Wahnvorstellungen durch Überforderung? (Sz1)
  2. Wie wird heute versucht, andere Leute zu beeindrucken? (Sz2)
  3. Gibt es nicht auch heute sehr fragwürdige, weil oberflächliche Unterhaltungen? (Sz3)
  4. Was tun bei Unzufriedenheit mit Partnerschaft (Sz4)
  5. Problem der Langeweile? (Szene 5)
  6. Kennt jemand heute auch noch die Lust, andere Leute durch Betonung ihrer Schwächen zu quälen (Sz9)

Weiterführende Hinweise