Ludwig Tieck, „Der Arme und die Liebe“

Ein Gedicht mit vielfältigen Querbezügen

  1. Das im folgenden vorgestellte Gedicht kann zum einen als Ballade verstanden werden. Denn es wird ein spannender Moment erzählt, der auch eine gewisse Dramatik enthält. Und das geschieht eben in der Form eines Gedichtes.
  2. Dann handelt es sich hier um ein Gedicht aus der Zeit der Romantik,
  3. Dazu um ein Gedicht, dass auch etwas mit Unterwegs-Sein zu tun hat, denn es geht schließlich um einen Pilger, der als Fremder irgendwo unterkommen muss.
  4. Außerdem geht es um die Frage, wie mit Not umgegangen werden kann oder auch sollte. Damit ergibt sich eine interessante Vergleichsmöglichkeit mit Bertolt Brechts Theaterstück „Der gute Mensch von Sezuan.

Erläuterung der Strophen des Gedichtes

Ludwig Tieck

Der Arme und die Liebe

  • Der Titel verbindet einen sozialen Status mit einem zentralen Gefühl.
  • Man ist als Leser  gespannt auf das, was sich dabei ergibt.

Es kam an einem Pilgerstab
Wohl über’s graue Meer
Ein Wandersmann in’s Tal hinab,
Von fremden Landen her.

  • Das Gedicht beginnt wie eine Ballade. Man hat den Eindruck, den Anfang einer Geschichte zu lesen.
  • Es geht um einen Pilger, der aus „fremden Landen“ kommt.
  • Es bleibt erst mal unklar, in welcher Beziehung er zu diesem Tal steht.
  • Es könnte eine Heimkehrsituation vorliegen.

Erbarmt euch meiner, rief er aus,
Von fernem Land ich kam,
Verloren hab‘ ich Gut und Haus,
Anthonio ist mein Nam‘.

  • Die zweite Strophe präsentiert dann die Klage und die entsprechende Bitte eines Menschen, der offensichtlich alles verloren hat.
  • Er präsentiert seinen Namen und versucht damit wohl, so eine Person zu werden, der man sich wirklich widmet.
  • Das ist ja ein Unterschied, ob man nur als Fremder erscheint oder bereits einen Namen hat und damit eine Identität .

Die Eltern starben mir schon lang‘,
Ich war noch schwach und klein,
War ohne Gut, war ohne Rang,
Und Niemand dachte mein.

  • In der dritten Strophe geht das Gedicht etwas genauer auf die Lebensgeschichte des Neuankömmlings ein.
  • Sie ist dadurch geprägt, dass er offensichtlich früh seine Eltern verloren hat
  • und auch sonst über nichts verfügte, was ihm eine Karriere erlaubt hätte.
  • Er hat zwar einen Namen, ist aber ansonsten eigentlich eine Niemand.

Da nahm ich diesen Wanderstab
Und trat die Reise an,
Stieg hier in’s frische Tal hinab,
Fleh‘ euer Mitleid an. –

  • In dieser Strophe beschreibt der Fremde, was ihn in diese Gegend geführt hat.
  • Was seltsam auffällt, ist, dass es zwischen seinen schlechten Startmöglichkeiten und seinem aktuellen Versuch, eine Zuflucht zu finden, keine Zwischenstationen gibt.
  • Auch auf seinen angeblichen Pilgerstatus geht er in keiner Weise ein.
  • Denn als solcher hätte er ja vielfältige Möglichkeiten gehabt, bei einem Kloster oder einer ähnlichen Institution zumindest kurzzeitig unterzukommen.

Da ging er wohl von Tür zu Tür,
Ging hier und wieder dort,
Ward abgewiesen dort und hier,
Und schlich sich weinend fort.

  • Es folgt die Beschreibung seiner fehlgeschlagene Versuche, irgendwo aufgenommen zu werden.
  • Am Ende steht sein Weinen als Zeichen von Resignation und Verzweiflung.
  • Auch hier fällt auf, dass dieser Fremde nur etwas haben will, aber nicht im Traum daran denkt, auch etwas anzubieten, zum Beispiel die Mitarbeit auf einem Bauernhof oder die Mithilfe in einer Gaststätte.

»Was suchst du in der Fremde Glück?
Wir sind dir nicht verwandt!
Geh, wo du herkömmst, nur zurück,
Bist nicht aus unserm Land. –

  • Diese Strophe zeigt das typische Denken, das sich in vielen Gegenden der Welt als Normalität herausgebildet hat.
  • Solidarität gibt es nur gegenüber den eigenen Leuten.
  • Dahinter steckt die Erfahrung der Not, die für die meisten Menschen entweder die Normalität oder eine ständig präsenter Gefahr darstellte.

Genug der Freunde leiden Not,
Der Landsmann sucht hier Trost,
Für sie nur wächst hier Frucht und Brot,
Für sie der süße Most.« –

  • In dieser Strophe wird diese Haltung dann auch noch näher begründet mit dem Hinweis auf die überall vorhandene Not.
  • So erscheint als  Konzentration auf den Umkreis der eigenen Leute sinnvoll.

Still und beschämt mit Ach und O!
Schlich er die Straße hin,
Da ruft es sanft: Anthonio!
Ein Mädchen winkt ihn hin.

  • Diese Strophe bringt die plötzliche und in dieser Form unerwartete Wende.
  • Der Not des Fremden stellt sich eine Haltung entgegen, die zunächst von Mitleid geprägt zu sein scheint. Für alles andere fehlen erst mal alle Voraussetzungen.

O nimm von meiner Armut an,
Spricht sie mit frommem Sinn,
Ich gebe was ich geben kann,
Nimm alles, alles hin.

  • Dann eine weitere Wende, nicht mehr nur Mitleid und damit die Bereitschaft, etwas vom Eigenen abzugeben,
  • sondern etwas, was nach völliger Hingabe aussieht.

Lucindens blaues Auge weint,
Er dankt mit heißem Kuss,
Und sieh! die Liebenden vereint
Ein rascher Tränenguss.

  • Auch die plötzlich erscheinende Helferin bekommt jetzt einen Namen und auch gleich schon etwas, was im Normalfall erst nach einiger Zeit als Zeichen der Liebe gewährt wird, nämlich einen Kuss.
  • Das Gedicht berücksichtigt hier in keiner Weise die kulturellen Gewohnheiten früherer Zeiten, die die Annäherung der Geschlechter zu einer komplizierten und sorgfältig überwachten Angelegenheit machte.
  • Das Mädchen scheint durch keinerlei Rücksichten auf irgendetwas eingebunden zu sein. Von einer Familie ist nicht die Rede, auch nicht von einem Beruf, nur von einer irgendwie im luftleeren Raum schwebenden Frömmigkeit.
  • So ganz auf die Schnelle werden sie im Gedicht präsentiert wie Menschen, die in einer ausreichend langen Zeit zusammengewachsen sind.
  • Es bleibt fraglich, warum sie beide weinen. Bei dem Fremden könnte man es verstehen als Ausdruck der überraschenden Erleichterung. Bei dem Mädchen kann das nur verstanden werden als Ergebnis einer ganz anderen Notlage. 

Ach nein, du bist mir nicht verwandt,
Dennoch erbarm ich mich,
Und bist du gleich aus fremdem Land‘,
So lieb ich dennoch dich.

  • In dieser Strophe wird noch einmal betont, dass die normalen Voraussetzungen der Aufnahme eines in Not Geratenen hier nicht vorliegen,
  • sondern dass irgendeine Form von Liebe diesen Mangel ausgleicht.
  • Um was für eine Liebe es sich handelt, bleibt in diesem Gedicht völlig ungeklärt
  • Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es auf dieser schmalen Basis eher zu Spannungen kommen wird als zu einer wirklichen Vereinigung.

Die Liebe kennt nicht Vaterland,
Sie macht uns alle gleich.
Ein jedes Herz ist ihr verwandt,
Sie macht den Bettler reich!

  • Die letzte Strophe präsentiert dann eine völlig wirklichkeitsfremde Liebesvorstellung,
  • deren naiver Sicht auf die Welt man als Leser fassungslos gegenübersteht.
  • Dass man durch Liebe auch als armer Mensch sich reich fühlen kann, soll gar nicht bestritten werden. Das muss nur anders hergeleitet werden.

Das Gedicht zeigt …

  1. Die in der ganzen Welt normale Reserviertheit gegenüber Fremden
  2. und die Konzentration möglicher Hilfe auf Angehörigendes eigenen Bereichs.
  3. In diesem Sonderfall eine rAbweichung von diesen Grundregeln menschlichen Zusammenlebens fehlt alles, was so etwas wahrscheinlich macht und ihm eine positive Zukunft ermöglicht.
  4. Weder bemüht sich der Fremde um mehr, als recht allgemein seine Not zu präsentieren.
  5. Noch wird auch nur ansatzweise klar gemacht, was eine junge Frau dazu bewegen könnte – in früheren Zeiten wohlgemerkt -, einem Fremden alles zu geben und sich auch gleich von ihm küssen zu lassen.
  6. Dieses Gedicht schreit geradezu nach einer realistischen Fortsetzung, die vielleicht nach einer entsprechenden Entwicklungszeit ein wirkliches Happy End ermöglicht.

Kritik und Kreativität

Wem diese Kritik zu hart erscheint, er muss sich einfach mal vorstellen, dass heute eine junge Frau mit einem solchen Fremden ohne Klärung der realen Verhältnisse bei der eigenen Familie erscheint.

Vielleicht geht es aber auch um eine junge Frau, die überhaupt keine Familie und auch sonst keine Verwandten und Bekannten hat. Da kann man nur hoffen, dass dieser angebliche Pilger sich die natürliche Dankbarkeit der ersten Minuten möglichst lange erhält. Aber Dankbarkeit ist schon eine Form von nachträglicher Gegenleistung, für die in diesem Gedicht alle Voraussetzungen fehlen.

Anregung: Wenn man dieses Gedicht liest und Bertolt Brechts Parabelstück „Der gute Mensch von Sezuan“ kennt, liegen zwei Dinge auf der Hand:

  • Zum einen, dass der kleine Nachen des begrenzten Hilfevermögens angesichts der Not schnell ins Sinken gerät.
  • Zum anderen, dass die Liebe wirklich eine der gefährlichsten Schwächen ist, wenn es um die Sicherung der eigenen Interessen, aber auch der sozialen Verantwortung anderen gegenüber geht.

Weiterführende Hinweise