Max Herrmann-Neisse, „Heimatlos“ (Mat4501)

Worum es hier geht:

Wir wollen zeigen, wie man schnell die zentralen Aussagen des Gedichtes „Heimatlos“ von Max Herrmann-Neisse versteht und es auch analysieren kann.

Wir konzentrieren uns auf den Inhalt und die Aussage, zentrale künstlerische Mittel sowie die Frage, was man mit dem Gedicht anfangen kann (Interpretation).

Zu finden ist das Gedicht z.B. hier. Wir präsentieren hier aber auch die einzelnen Teile, so dass man unsere Auswertung direkt verfolgen kann. Dabei unterteilen wir das Gedicht entsprechend dem Reimschema in Vier-Zeilen-Strophen, auch wenn der Dichter aus vielleicht gutem Grunde auf eine Trennung verzichtet hat. Vielleicht wollte er das pausenlos Drängende der Situation so zusätzlich deutlich machen.

Anmerkungen zu Strophe 1

Wir ohne Heimat irren so verloren
und sinnlos durch der Fremde Labyrinth.
Die Eingebornen plaudern vor den Toren
vertraut im abendlichen Sommerwind.

  • Das Gedicht beginnt mit der Bezeichnung der Gruppe, der das lyrische Ich auch angehörig fühlt.
  • Das entscheidende Kennzeichen ist, dass sie ohne Heimat sind.
  • Und das hat die Konsequenz, dass sie jetzt durch die Welt „irren“, „verloren“ sind und ihre Situation als „sinnlos“ empfinden.
  • Es wird auch noch nachgeschoben, wie sie den Ort empfinden, an dem sie mehr oder weniger vorläufig Zuflucht gefunden haben. Es ist eine „Fremde“ und kommt ihnen wie ein „Labyrinth“ vor.
  • Insgesamt ist es eine überaus kompakte Beschreibung der Situation der Emigranten, zu denen auch der Dichter gehörte:
    „Kurz nach dem Reichstagsbrand 1933 verließ Herrmann-Neiße gemeinsam mit seiner Frau Deutschland und ging zunächst in die Schweiz, dann über die Niederlande und Frankreich nach London, wo er sich im September 1933 niederließ“
    https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Herrmann-Nei%C3%9Fe
  • Im zweiten Teil der Strophe kommt das lyrische Ich auf die „Eingebornen“ sprechen. Dieses alte, heute eher diskriminierend wirkende Wort passt im Kontext des Gedichtes aber sehr gut, weil es deutlich macht, dass der Vorteil dieser Menschen ist, dass sie an ihrem Ort geboren und aufgewachsen sind und vor allem bleiben konnten.
  • Ganz passend dazu wird ihre Situation auch als „vertraut“ bezeichnet.
  • Fassen wir kurz den aktuellen Stand der Aussage des Gedichtes zusammen:
    • Es geht um den Gegensatz zwischen der von Emigranten so empfundenen Situation in der Fremde
    • im Vergleich zu den Menschen, die dort in vertrauter Umgebung unter ihresgleichen und auch noch in einer schönen Umgebung leben dürfen.

Anmerkungen zu Strophe 2

Er macht den Fenstervorhang flüchtig wehen
und lässt uns in die lang entbehrte Ruh
des sichren Friedens einer Stube sehen
und schließt sie vor uns grausam wieder zu.

  • Die zweite Strophe hebt dann den Gegensatz noch einmal auf eine sehr konkrete Hand und Weise hervor.
  • Hier geht es um einen kurzen Blick in die Stube der Einheimischen, die das haben, was man selbst vermisst,
    • nämlich Ruhe
    • und sicheren Frieden.
  • Den Schluss der Strophe bildet dann eine recht starke Beschreibung des Gefühls im wahrsten Sinne des „Ausgeschlossenseins“.

Anmerkungen zu Strophe 3

Die herrenlosen Katzen in den Gassen,
die Bettler, nächtigend im nassen Gras,
sind nicht so ausgestoßen und verlassen
wie jeder, der ein Heimatglück besaß

  • Die dritte Strophe betrachtet die immer noch gleiche Situation unter einem weiteren Gesichtspunkt.
  • Diesmal richtet sich der Blick auf die Lebewesen, die normalerweise in in der modernen Wohlstandswelt es auch nicht leicht haben. Dass hier Tiere und Menschen im gleichen Atemzug genannt werden, ist sicherlich irritierend. Aber dadurch soll wohl betont werden, dass die Lebewesen, die ohne ein Zuhause sind, in der gleichen Situation sind. Man könnte auch provozierend sagen, dass es in der Sicht des Gedichtes keinen Unterschied mehr gibt zwischen herrenlosen Katzen und Bettlern. Das wird dann verglichen mit der Situation der Emigranten, die in gewisser Weise noch mehr „ausgestoßen und verlassen“ sind.
  • Der Unterschied dürfte wohl darin bestehen, dass herrenlose Katzen und Bettler zumindest einen einigermaßen sicheren Ort haben, an dem sie überleben können. Die Emigranten sind im Vergleich dazu sehr viel schutzloser, können zum Beispiel jederzeit abgeschoben werden.

Anmerkungen zu Strophe 4

und hat es ohne seine Schuld verloren
und irrt jetzt durch der Fremde Labyrinth.
Die Eingebornen träumen vor den Toren
und wissen nicht, daß wir ihr Schatten sind.

  • Die Schlussstrophe betont dann, dass die Emigranten ihr Glück ohne eigene Schuld verloren haben, während das bei Bettlern durchaus in deren Verantwortung liegen kann.
  • Interessant ist dann, dass am Ende etwas aus der ersten Strophe wieder aufgenommen wird und jetzt auf eine neue Art und Weise gesehen wird.
  • Das lyrische Ich hebt nämlich hervor, dass die Emigranten sich gewissermaßen als Schatten der Menschen fühlen könnten, die im Sonnenlicht leben. Zu denen haben die meisten von ihnen ja vorher gehört.
  • Aber betont wird dabei, dass die Einheimischen die Emigranten eben nur noch als heruntergekommene und verlassene Fremde sehen und nicht ahnen, dass sie mal genauso glücklich gewesen sind wie sie jetzt.
  • Der Schmerz des Emigranten-Daseins wird also verstärkt dadurch, dass man unter Menschen lebt, die einen nicht mehr so richtig bedauern können. Denn bei einem Menschen, der nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt, hat man sehr viel eher das Mitgefühl des Verlustes oder kann das zumindest haben. Emigranten dagegen werden eben nur in ihrer aktuellen äußeren Situation gesehen, ohne dass eine bessere Vorgeschichte zumindest mit in den Blick kommt.

 

Insgesamt ein Gedicht,

  • das auf beeindruckende Weise das Lebensgefühl von Emigranten schildert.
  • Es ist vor allem bestimmt durch eine sich aus der Situation ergebenden Diskriminierung geprägt,
    • an der man selbst nicht schuld ist
    • und die die anderen Probleme, die man als Emigrant hat, noch verstärkt.
  • Ein besonderes literarisches Mittel ist der erweiterte Ringschluss: Ein Element aus der ersten Strophe wird aufgenommen und noch im Sinne eines Schluss-Akzents verstärkt.

Zur äußeren Form des Gedichtes:

  • Den durchgehenden Kreuzreim hatten wir schon angesprochen.
  • Das Versmaß ist ein fünfhebiger Jambus, was man am besten feststellt, wenn man sich erst mal die mehrsilbigen Wörter anschaut:

    „Wir ohne Heimat irren so verloren

    und sinnlos durch der Fremde Labyrinth.

    Die Eingebornen plaudern vor den Toren

    vertraut im abendlichen Sommerwind.“

  • Und dann schaut man, ob die anderen Silben sich alternierend gruppieren lassen.

    xXxXxXxXxXx
    xXxXxXxXxX
    xXxXxXxXxXx
    xXxXxXxXxX

  • Dann muss man nur noch schauen, ob dieser Rhythmus in allen weiteren Zeilen durchgehalten wird. Das kann ja jeder mal selbst prüfen – und wenn es eine Frage gibt, einfach diese Seite nutzen:
  • Fragen und Anregungen können auf dieser Seite abgelegt werden:
    https://textaussage.de/schnelle-hilfe-bei-aufgaben-im-deutschunterricht

Was kann man mit dem Gedicht anfangen?

  • Natürlich kann man  es erst mal mit anderen Gedichten vergleichen, die sich mit Emigrationserfahrungen beschäftigen. Hier gibt die folgende Seite vielleicht Anregungen:
    https://textaussage.de/thema-reisegedichte-teilthema-heimat-und-fremde
  • Man kann Menschen fragen, die in letzter Zeit ihre Heimat verloren haben. Natürlich sollte man das nur tun, wenn das auch gewünscht oder zumindest akzeptiert wird.
  • Ansonsten kann man sich selbst fragen, ob man sich nicht auch schon mal fremd gefühlt hat in einer Gegend oder auch nur Situation.
  • Dann könnte man mal schauen, ob man das vielleicht auch in einem Gedicht ausdrücken kann – das muss ja keinen Reim haben. Der Rhythmus ergibt sich dann, wenn man das Gefühl hat, dass es passt.

Wer noch mehr möchte …