Mündliche Abiturprüfung: Kafka, „Der plötzliche Spaziergang“ – Versuch eine ein Ordnung in die Grundmuster des Gesamtwerks

Zunächst der Text – in seine erzählerischen Bestandteile zerlegt

Weil der Text je nach Einstellung des Bildschirms digital unterschiedlich dargestellt wird, haben wir auf eine Zeilenzählung verzichtet, sondern schon mal eine Einteilung entsprechend der Abfolge der erzählerischen Informationen vorgenommen.

Es empfiehlt sich, bei der Analyse so etwas zu machen, weil man dadurch einen besseren Überblick über den erzählerischen Fortschritt bekommt.

Franz Kafka,

Der plötzliche Spaziergang

  1. „Wenn man sich am Abend endgültig entschlossen zu haben scheint, zu Hause zu bleiben,
  2. den Hausrock angezogen hat,
  3. nach dem Nachtmahl beim beleuchteten Tische sitzt und jene Arbeit oder jenes Spiel vorgenommen hat, nach dessen Beendigung man gewohnheitsgemäß schlafen geht,
  4. wenn draußen ein unfreundliches Wetter ist, welches das Zuhausebleiben selbstverständlich macht,
  5. wenn man jetzt auch schon so lange bei Tisch stillgehalten hat, dass das Weggehen allgemeines Erstaunen hervorrufen müsste,
  6. wenn nun auch schon das Treppenhaus dunkel und das Haustor gesperrt ist,
  7. und wenn man nun trotz alledem in einem plötzlichen Unbehagen aufsteht, den Rock wechselt, sofort straßenmäßig angezogen erscheint,
  8. weggehen zu müssen erklärt, es nach kurzem Abschied auch tut,
  9. je nach der Schnelligkeit, mit der man die Wohnungstür zuschlägt, mehr oder weniger Ärger zu hinterlassen glaubt,
  10. wenn man sich auf der Gasse wiederfindet, mit Gliedern, die diese schon unerwartete Freiheit, die man ihnen verschafft hat, mit besonderer Beweglichkeit beantworten,
  11. wenn man durch diesen einen Entschluss alle Entschlussfähigkeit in sich gesammelt fühlt,
  12. wenn man mit größerer als der gewöhnlichen Bedeutung erkennt, dass man ja mehr Kraft als Bedürfnis hat, die schnellste Veränderung leicht zu bewirken und zu ertragen,
  13. und wenn man so die langen Gassen hinläuft, —
  14. dann ist man für diesen Abend gänzlich aus seiner Familie ausgetreten, die ins Wesenlose abschwenkt,
  15. während man selbst, ganz fest, schwarz vor Umrissenheit, hinten die Schenkel schlagend, sich zu seiner wahren Gestalt erhebt.
  16. Verstärkt wird alles noch, wenn man zu dieser späten Abendzeit einen Freund aufsucht, um nachzusehen, wie es ihm geht.

Dann die Aufgabenstellung:

  1. Analysieren Sie die Erzählung unter besonderer Berücksichtigung der Erzähltechnik.
  2. Ordnen Sie sie anschließend unter Berücksichtigung der im Unterricht erarbeiteten Grundmuster thematisch in das Gesamtwerk Kafkas ein.

Übersicht über die thematischen Grundmuster im Werk Kafkas:

Näheres dazu ist hier zu finden:
https://textaussage.de/kafka-grundmuster

Beispiel für einen mündlich gehaltenen Vortrag im Rahmen der Prüfung

  • Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine der kleinen Erzählungen Kafkas, die sich mit dem Ablauf und den Auswirkungen eines Ausbruchs aus dem normalen Alltag Beschäftigt (Thema).
  • Sie lässt sich insgesamt in drei Teile gliedern:
    • Erzählabschnitte 1-6: Beschreibung des normalen Ablaufs eines Abends mit Hervorhebung der Gewohnheit und der Erwartung der Beteiligten, dass dieser entsprochen wird.
    • Erzählabschnitte 7-13: Beschreibung der direkten Folgen des Weggehens mit einer interessanten Reihe von positiven Aspekten: „Freiheit“, „Beweglichkeit“, „Entschlussfähigkeit“, „Bedeutung“, „Kraft“, „Veränderung“ „bewirken“ und „ertragen“.
    • Erzählschritte 14-16: Interpretation der Folgen in Richtung grundsätzlicher Veränderungen:
      • Betonung des Austretens aus der Familie, die „ins Wesenlose abschwenkt“, also im Unterschied zu der Hauptfigur falsch abbiegt und damit verschwindet.
      • Gewinn eigener Konturen („schwarz vor Unwissenheit“)
      • Aufkommen eines Glücksgefühls, dass ich auch körperlich auswirkt („hinten die Schenkel schlagen „)
      • Erreichen eines eigenen Entwicklungsziels („sich zu seiner wahren Gestalt erhebt“)
      • Übertritt in den einen eignen, selbstbestimmten sozialen Bereich („einen Freund aufsucht, um nachzusehen, wie es ihm geht“)
  • Intentionalität/Aussagen: Die Erzählung zeigt …
    • zunächst die problematische Enge des Alltags, der Gewohnheit
    • dann die direkten positiven Auswirkungen des Ausbruchs aus dieser Enge
    • verbunden mit der Möglichkeit, damit Unverständnis und Ärger auszulösen
    • schließlich die allgemeinen, größeren Folgen des Ausbruchs im Stil einer Selbstinterpretation.
    • Letztlich geht es um die Bedeutung von Freiheit, Beweglichkeit, Selbstbewusstsein, Entschluss Freude und Kraft und damit einen Zugewinn an Autonomie in einem freigewählten sozialen Zusammenhang.
  • Künstlerische/sprachliche/rhetorische Mittel: Hier geht es darum, mit welchen Mitteln das Thema und dann die Aussagen des Textes unterstützt werden:
    • Schon der Titel setzt einen deutlichen Akzent, indem er Plötzlichkeit und die Annehmlichkeit eines Spaziergangs verbindet.
    • Demgegenüber wird im ersten Teil durch eine lange Aneinanderreihung von gewohnten Verhaltensweisen die Enge der Normalität deutlich gemacht.
    • Das ganze wie auch der Rest wird hypothetisch als Möglichkeit dargestellt. Wer sich im Werk Kafkas auskennt, dem fällt die Ähnlichkeit mit der Erzählung „Auf der Galerie“ auf.
    • Eine große Bedeutung haben Schlüsselbegriffe wie „scheint“ und „in einem plötzlichen Unbehagen“, die das Unvollkommene der Normalität deutlich werden lassen.
    • Dem werden mit „Freiheit“, „Beweglichkeit“, „Entschlussfähigkeit“, „Bedeutung“, „Kraft“ und die Fähigkeit zur „Veränderung“ Elemente der Vollkommenheit gegenübergestellt, die in der Vorstellung einer „wahren Gestalt“ ihren Zielpunkt erreichen.

 

Einordnung der Erzählung in die thematischen Grundmuster von Kafkas Werk

    • Diese Erzählung nimmt eine Sonderstellung ein, weil sie dem skeptischen und häufig düsteren Blick auf die Situation des Menschen in der Welt zumindest hypothetisch ein positives Bild gegenüberstellt.
    • Nichts von Unsicherheit, Gefährdung der eigenen Position, keine Gefühle der Überforderung oder des Ausgeliefertseins, stattdessen zwar ein Unwohlsein, aber eins, das einen Ausbruch aus der gewohnten Enge auslöst.
    • Er ist verbunden mit Gefühlen eines Gewinns an Selbstbewusstsein und Autonomie, die schließlich nicht nur das Bedürfnis nach selbst gewählte soziale Gemeinschaft, sondern wohl auch die Chance dazu schafft.
    • Es bleibt allenfalls die Frage, ob das alles nur hypothetische Gedanken sind oder ob sie sich auch in der Realität umsetzen lassen.

Weiterführende Hinweise