Schnell durchblicken bei Günter Kunerts Geschichte „Zirkuswesen“ und Querbeziehungen zur Welt Kafkas (Mat5764)

Worum es hier geht:

Die Geschichte „Zirkuswesen“ von Günter Kunert, enthält wie die Erzählungen Kafkas den Einbruch des Ungeheuerlichen, Absonderlichen in die normale Welt.

Es lohnt sich, darüber nachzudenken, inwieweit es darüber hinaus aber auch Unterschiede gibt.

Analyse des Handlungsgangs bzw. der Erzählschritte

  1. Die Geschichte beginnt schnell mit dem „Entsetztenschrei“ der Leute, die eine Zirkusvorstellung besuchen.
  2. Ausgangspunkt einer seltsam verdrehten Reihenfolge von Ereignissen ist der Angriff des Dompteurs auf einen Königstiger. Er verbeißt sich in dessenNacken, was nach kurzer Zeit zum Tod des Tieres führt.
  3. Hier fängt schon das Unwahrscheinlichke an, das sich dann fortsetzt:
    1. Die anderen Raubtiere zeigen sich ängstlich,
    2. der Dompteur kann mal eben schnell die Gitterstäbe des Käfigs auseinanderbrechen und ins Freie stürzen.
  4. Dort präsentiert er sich sehr machtvoll und drohend und die Leute reagieren darauf auf die gleiche Art und Weise wie auf ein ausgebrochenes wildes Tier, nur dass es diesmal eben heißt: „Der Dompteur ist los“.
  5. Sehr gefährlich klingt der Hinweis, dass niemand von ihm verschont wird. Dann zeigt sich aber, dass es hier nicht um Mord und Totschlag geht, sondern um die Veränderung des normalen Verhaltens der Menschen in Zirkusattraktionen:
    1. „auf Händen stehende Straßenbahnschaffnerinnen“
    2. „auf Wäscheleinen balancierende Hauswarte“
    3. Großväter, „die in Stuben keuchend auf den Tisch oder auf den Ofen springen“.
  6. Zusammenfassend heißt es:
    „Angst und Schrecken und erstaunliche, eilfertig ausgeführte Dressurleistungen griffen immer weiter um sich.“
  7. Interessant ist dann, dass die Menschen geradezu auf den Peitschenknall warten, der es Ihnen erlaubt, ihre artistische Haltung aufzulösen und „knurrend und murrend in die Küche oder ins Bett zu schleichen“.
  8. Das Ende der Geschichte schafft dann noch einmal einen Höhepunkt. Zunächst heißt es noch einmal wie bei einem wilden Tier, dass es gelungen sei, nach drei Tagen den Dompteur einzufangen. Im selben Zusammenhang ist aber auch davon die Rede, dass es gelungen sei, ihn zum Bürgermeister zu machen. Das ist sicherlich ein Punkt, über den nachzudenken sich lohnt.
  9. Das setzt sich dann fort, indem es heißt, dass auf diese Art und Weise in der Stadt wieder Ruhe und Ordnung eingekehrt sein.
  10. Am Ende stellte Erzähler fest, dass sich ein ganz „unglaublicher Aufschwung des Zirkuswesens“ nicht „länger leugnen“ lasse. Das klingt fast so, als gäbe es hier Leute, die das ganz gerne geleugnet hätten.

Versuch, Aussage und Sinn der Geschichte zu klären

  1. Zunächst einmal wird die Zirkuswelt auf den Kopf gestellt, soweit sie die Tiere in der Manege angeht.
  2. Das kann man so verstehen, dass hier ein Dompteur eine Art Amoklauf veranstaltet, der das allen klarmacht, was da im Einzelnen eigentlich täglich geschieht. Kritiker verweisen ja darauf, dass Zirkustiere nicht gerade artgerecht eingesetzt werden – um es vorsichtig auszudrücken.
  3. Der Dompteur würde diesen Prozess der Entfernung eines Tieres immer mehr von sich selbst und seiner natürlichen Umwelt nur zu einem schnellen tödlichen Ende bringen.
  4. Dass damit nicht irgendeine Art von Selbstkritik einhergeht, zeigt sich im weiteren Geschehen. Denn dort beginnt ja eigentlich das Dressurwesen von neuem – nur eben auf einer früheren Stufe. Die Menschen werden gewissermaßen aus ihrer natürlichen Verhaltenssituation in eine unnormale überführt. Dass es sich hier um keine positive Vorstellung vom Zirkus und seiner Kultur handelt, wird überdeutlich, wenn es um das fast schon Flehen um den abschließenden und kurzzeitig befreienden Peitschenknall für die Menschen geht.
  5. Der Schluss präsentiert dann eine Art Übertragung: Dieser Dompteur wird zum Bürgermeister gemacht – und es kehren „Ruhe und Ordnung“ wieder ein. Diese Rückkehr zur scheinbaren Normalität steht aber im Widerspruch zum anschließend beschriebenen „Aufschwung des Zirkuswesens“. Das als Kritik am Politikbetrieb und seiner gesellschaftlichen Voraussetzungen zu sehen, liegt wohl nahe.

Vergleich mit Kafkas Erzählungen

  1. Für jeden, der Kafkas Erzählungen kennt, liegt ein
    Vergleich mit „Auf der Galerie“ nahe.
    https://textaussage.de/kafka-auf-der-galerie-zwischen-sein-und-schein
    Dort aber gibt es gerade kein Aus-den-Angeln-Heben der normalen Realität, sondern am Ende nur einen Ansatz von Mitleiden, ohne dass es zu einer rebellierenden Klarheit führt. Das hängt eben mit der positiven Selbstpräsentation des Zirkuswesens zusammen.
  2. Um das geht es hier aber gar nicht.
  3. Von daher ist es sinnvoller, diese Geschichte mit „Gib’s auf“
    https://textaussage.de/kafka-gibs-auf
    zu vergleichen.
    Dort verliert ein Mensch die Sicherheit des Gewohnten und bekommt auch keine Hilfe bei einem Vertreter der Ordnungsmacht.
  4. Das heißt: Bei Kafka geht es um die grundsätzliche Frage nach dem Wesen einer Welt, die ihre scheinbare Ordnung zumindest in der Fiktion mal ganz klar verloren hat.
  5. Bei Kunert dagegen geht es um gesellschaftliche Misstände (Tierdressur, Anfälligkeit für peitschenknallende Führerfiguren und wohl auch Massensuggestion), die am Ende einmal kurz deutlich geworden sind, ohne dass sich in der Substanz etwas verbessert.
  6. Bei Kunert lohnt es sich, nach Möglichkeiten zu suchen, wie man eine Zirkuswelt wie diese humanisieren könnte.
  7. Bei Kafka geht das nicht, weil die Grundfesten der Wirklichkeit ins Rutschen kommen. Da kann man nur hoffen, dass es bei der Bewusstwerdung der Brüchigkeit der Welt bleibt – und sich das nicht tatsächlich zu einem Bruch führt.
  8. Es gibt ja die interessante Überlegung, ob man Kafkas Welt nicht als eine Vorab-Demonstration dessen verstehen kann, was dann in den Zivilisationsbrüchen des 20. Jhdt. mit ihren Millionen von Opfern auf schreckliche Art und Weise Wirklichkeit geworden ist.
  9. Wenn man diesen Bezug allerdings herstellt, ergibt sich doch wieder eine Gemeinsamkeit zwischen der natürliches, selbstbestimmtes Leben verachtenden Zirkuswelt in Kunerts Geschichte und dem Widerstand gegen all das, was auch in unserer Zeit Menschlichkeit im weitesten Sinne gefährden kann.

Weitere Infos, Tipps und Materialien