Theodor Fontane, „Ein kleiner Gärtnerjunge“ – wieso gehört das Gedicht in die Epoche des Realismus? (Mat6077)

Worum es hier geht:

(Poetischer) Realismus als Sonderfall

  • Auf die Schnelle fällt einem da meist nur das Gedicht „Der römische Brunnen“ von Conrad Ferdinand Meyer ein. Aber das ist ein überaus kunstvolles Gedicht, von dem es mehrere Fassungen gibt.
    • Schön, dass es Fontane gibt. Der hat ja mit Effi Briest einen wunderbaren Roman geschrieben, dessen Ende mit der Beschreibung von Effis Tod überaus typisch ist. Dort wird nämlich alles Schreckliche ausgeblendet, nachdem die junge Effi viel Schlimmes erlebt hat. Aber der Tod wird nur sehr rücksichtsvoll, diskret behandelt.
      Da heißt es zunächst im Hinblick auf den Moment des Todes:

      • „Ein Gefühl der Befreiung überkam sie. ‚Ruhe, Ruhe.‘
      • Und dann geht es einfach über zu einer Szene des Gedenkens, die so beginnt:
        Es war einen Monat später…“
    • Das führt zu einer wichtigen Ergänzung:
  • „Realismus“ heißt in der deutschen Literaturgeschichte auch „poetischer“ Realismus, weil die Wirklichkeit zwar im Unterschied zum Idealismus der Goethezeit eben nicht mehr idealisiert wird, aber sie wird doch etwas künstlerisch überhöht, verfeinert, in zarte Farben getaucht.

Beispiel: dieses Gedicht

  • Schauen wir uns das jetzt mal bei dem Gedicht „Ein kleiner Gärtnerjunge“ von Theodor Fontane an:

Theodor Fontane

Ein kleiner Gärtnerjunge

  • Schon der Titel deutet an, dass es um Realität geht, nämlich einen Menschen aus den unteren Bevölkerungsschichten.

(Mit einer Blumenkiepe)

  • In diesem Untertitel wird das noch verstärkt, es wird auf Einzelheiten eingegangen.

Bei Fürstenwalde ist viel Wald,
Fichten, Kusseln und Kiefern.
Da dacht ich, wenn nun Hochzeit bald.
Wirst du die Blumen liefern.

  • Die ersten beiden Zeilen der nächsten Strophe setzen das fort – ganz sachlich.
  • Dann aber kommt etwas Menschliches hinein, was auch von Goethe sein könnte. Das lyrische Ich beschreibt das, was ihm dazu einfällt.Viel freilich ist in der Kiepe nicht drin,
    Reseda und Balsaminen,
    Na, nehmt das bißchen so freundlich hin.
    Als wär ich mit mehr erschienen.
  • Der Realitätssinn setzt sich fort – es wird deutlich, dass dieser Junge nicht viel anzubieten hat.
  • Das wird dann noch ein bisschen genauer beschrieben.
  • Bei den nächsten beiden Zeilen weiß man nicht, ob das lyrische Ich das nur denkt. Aber der Junge könnte das auch sagen. Er sieht seine Situation und wendet sich dem Gegenüber zu. Hier ist gegenseitiges Verständnis im Spiel.Es kommt auch am End auf die Blumen nicht an,
    Und wären’s die seltensten Arten,
    Eine gute Frau und ein guter Mann,
    Die sind der beste Garten.
  • Hier am Ende ist es dann wohl ganz eindeutig das lyrische Ich, das aus dem Konkreten etwas Allgemeines macht, nämlich den Hinweis, worauf es im Leben wirklich ankommt.
  • All das könnte auch von Goethe kommen, aber nicht auf diese ganz einfache und zugleich vielsagende Art, bei der manchmal auch traurige Wirklichkeit aufgenommen und eben poetisch zu einem vertieften Nachdenken über das Leben verarbeitet wird.
  • Zum poetischen Realismus gehört außerdem immer auch ein bisschen Humor, ein gemeinsames Mitempfinden mit dem anderen Menschen. Humor bedeutet ja immer, dass man sich nicht über das Gegenüber stellt, auch wenn man sich mal ein bisschen lustig über den anderen macht oder eben – wie hier – seine Grenzen sieht.
  • So bleibt im poetischen Realismus etwas vom Idealismus übrig, aber auf die Ebene der menschlichen Wirklichkeit heruntergedichtet – und zugleich immer noch mit der Hoffnung, dass es mehr gibt als das Elend – und das vor allem dann, wenn man sich gegenseitig achtet, versteht und zusammenfindet.

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