Worum es uns geht
Viele Schüler haben Angst vor Gedichten – und bei solchen aus der Zeit des Expressionismus wird es besonders schwierig.
Wir zeigen im Folgenden, wie ein einfacher Weg zur sicheren Interpretation aussehen kann.
Zunächst einmal das Gedicht:
Alfred Wolfenstein
Städter
Dicht wie Löcher eines Siebes stehn
Fenster beieinander, drängend fassen
Häuser sich so dicht an, dass die Straßen
Grau geschwollen wie Gewürgte stehn.
Ineinander dicht hineingehakt
Sitzen in den Trams die zwei Fassaden
Leute, ihre nahen Blicke baden
Ineinander, ohne Scheu befragt.
Unsre Wände sind so dünn wie Haut,
Dass ein jeder teilnimmt, wenn ich weine.
Unser Flüstern, Denken … wird Gegröle …
Und wie still in dick verschlossner Höhle
Ganz unangerührt und ungeschaut
Steht ein jeder fern und fühlt: alleine.
Der Weg zu einer sicheren Interpretation:
Wir fangen mal mit ersten Beobachtungen und Anmerkungen an, die wir optisch in einem Bild festhalten.
Erklärung des Bildes:
- Man schaut sich zunächst die äußere Form an und stellt fest, dass es sich um vier Strophen handelt, die das Sonett-Schema aufweisen: zwei Quartette und zwei Terzette.
- Das Reimschema ist abba, cddc, efg und gef (hier hatten wir uns beim ersten Zugriff in der Zeichnung vertan, weil wir die beiden Quartette nicht aufsummiert haben, aber auch das ist typisch für eine Klausursituation. Entscheidend ist ja, was am Ende geschrieben wurde.
- Der Rhythmus ist ein 5hebiger Trochäus, nur am Anfang gibt es eine Störung, dachten wir auch zunächst, aber wenn man es noch mal durchprüft, stellt man fest, der fünfhebige Trochäus passt auch hier. Tja, schon eine zweite Selbstkorrektur – das ist sehr schön für das Ergebnis 😉
- Dann der Titel: Ach ja, alles klar, es geht um ein typische Thema des Expressionismus, man muss nur schauen, ob es wirklich Züge des Expressionismus zeigt. Aber das kommt später. Wichtig ist, es geht nicht um Städte, sondern um Städter, also die Menschen in ihnen.
- Die Markierungsfarben zeigen, was alles negativ ist (gelb = giftig) und was tendenziell auch positiv sein könnte (grün). Man hat den Eindruck, dass hier eine Perversion von Gemeinschaft vorliegt.
- Detail-Analyse: Strophe 1 = negatives Bild der Stadt. Sie erscheint vor allem als eng und ohne Lebensmöglichkeiten. Die letzte Zeile deutet sogar an, dass die Verhältnisse lebensfeindlich sind, man nicht mehr atmen kann (ein starker Vergleich).
- Die zweite Strophe wendet sich dann den Menschen zu in einer Straßenbahn. Es wird deutlich, dass die Menschen sich zwar nah sind, das aber eher als unangenehm empfinden.
- Die dritte Strophe zeigt dann, wie die Menschen sich fühlen: Die Wände in einem Haus sind so eng, dass jeder am Leben des anderen teilnimmt, so einfache menschliche, aber auch zugleich eher intime Dinge wie „Flüstern“ und „Denken“ eher als „Gegröle“ empfindet und damit also nichts positiv anfangen kann.
- Letzte Strophe zeigt dann das Ergebnis, den Gegensatz von räumlicher Enge und innerer Ferne, die dazu führt, dass jeder, so dass wuchtiges Schlusswort, „alleine“ ist.
- Damit hat man auch zugleich schon eine vorläufige Bestimmung der Intention, der Aussage des Gedichtes: die Stadt bedeutet Enge, zugleich aber auch eine falsche Nähe, die letztlich eher zu Abgrenzung und Einsamkeit führt.
— - Interessant in diesem Zusammenhang könnte das folgende Zitat sein:
„Das Laster der Kleinstadt ist der Klatsch, das Laster der Großstadt Gleichgültigkeit.“
Näheres dazu findet sich z.B. hier.
Beispiel für ein positives Gegengedicht:
Lars Krüsand,
Wenn Fassaden bröckeln
Ich steige in einen Fahrstuhl
und mir fällt ein,
dass es dort ungeschriebene Gesetze gibt,
wie man Abstand hält.
Ich werde nervös,
angesichts meines Gegenübers,
das die Regel vielleicht besser
beherrscht als ich.
Vor lauter Aufregung,
fallen die Blätter
meiner Vorbereitung auf den Boden,
schnell aufgehoben vom Gegenüber.
Damit war der Bann des Gesetzes
offensichtlich gebrochen.
Die Blicke trafen sich
Und schon ergab sich ein Gespräch.
Sie hatte auch einen Termin,
war nur zur Sicherheit eine Viertelstunde
zu früh – warum nicht nachher wieder
gemeinsam Fahrstuhl fahren
und dann ins Café.
Noch ein Hinweis dazu:
Wer sich auch für die Entstehung dieses Gedichts und die anschließende Diskussion interessiert, findet dazu mehr in unserer Schreibwerkstatt.
Wer noch mehr möchte …
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