Der Weg zur sicheren Interpretation: Wolfenstein, Städter (Mat7075)

Worum es uns geht

Viele Schüler haben Angst vor Gedichten – und bei solchen aus der Zeit des Expressionismus wird es besonders schwierig.

Wir zeigen im Folgenden, wie ein einfacher Weg zur sicheren Interpretation aussehen kann.

Zunächst einmal das Gedicht:

Alfred Wolfenstein

Städter

  1. Dicht wie Löcher eines Siebes stehn
  2. Fenster beieinander, drängend fassen
  3. Häuser sich so dicht an, dass die Straßen
  4. Grau geschwollen wie Gewürgte stehn.
  5. Ineinander dicht hineingehakt
  6. Sitzen in den Trams die zwei Fassaden
  7. Leute, ihre nahen Blicke baden
  8. Ineinander, ohne Scheu befragt.
  9. Unsre Wände sind so dünn wie Haut,
  10. Dass ein jeder teilnimmt, wenn ich weine.
  11. Unser Flüstern, Denken … wird Gegröle …
  12. Und wie still in dick verschlossner Höhle
  13. Ganz unangerührt und ungeschaut
  14. Steht ein jeder fern und fühlt: alleine.

Der Weg zu einer sicheren Interpretation:

Wir fangen mal mit ersten Beobachtungen und Anmerkungen an, die wir optisch in einem Bild festhalten.

Erklärung des Bildes:

  1. Man schaut sich zunächst die äußere Form an und stellt fest, dass es sich um vier Strophen handelt, die das Sonett-Schema aufweisen: zwei Quartette und zwei Terzette.
  2. Das Reimschema ist abba, cddc, efg und gef (hier hatten wir uns beim ersten Zugriff in der Zeichnung vertan, weil wir die beiden Quartette nicht aufsummiert haben, aber auch das ist typisch für eine Klausursituation. Entscheidend ist ja, was am Ende geschrieben wurde.
  3. Der Rhythmus ist ein 5hebiger Trochäus, nur am Anfang gibt es eine Störung, dachten wir auch zunächst, aber wenn man es noch mal durchprüft, stellt man fest, der fünfhebige Trochäus passt auch hier. Tja, schon eine zweite Selbstkorrektur – das ist sehr schön für das Ergebnis 😉
  4. Dann der Titel: Ach ja, alles klar, es geht um ein typische Thema des Expressionismus, man muss nur schauen, ob es wirklich Züge des Expressionismus zeigt. Aber das kommt später. Wichtig ist, es geht nicht um Städte, sondern um Städter, also die Menschen in ihnen.
  5. Die Markierungsfarben zeigen, was alles negativ ist (gelb = giftig) und was tendenziell auch positiv sein könnte (grün). Man hat den Eindruck, dass hier eine Perversion von Gemeinschaft vorliegt.
  6. Detail-Analyse: Strophe 1 = negatives Bild der Stadt. Sie erscheint vor allem als eng und ohne Lebensmöglichkeiten. Die letzte Zeile deutet sogar an, dass die Verhältnisse lebensfeindlich sind, man nicht mehr atmen kann (ein starker Vergleich).
  7. Die zweite Strophe wendet sich dann den Menschen zu in einer Straßenbahn. Es wird deutlich, dass die Menschen sich zwar nah sind, das aber eher als unangenehm empfinden.
  8. Die dritte Strophe zeigt dann, wie die Menschen sich fühlen: Die Wände in einem Haus sind so eng, dass jeder am Leben des anderen teilnimmt, so einfache menschliche, aber auch zugleich eher intime Dinge wie „Flüstern“ und „Denken“ eher als „Gegröle“ empfindet und damit also nichts positiv anfangen kann.
  9. Letzte Strophe zeigt dann das Ergebnis, den Gegensatz von räumlicher Enge und innerer Ferne, die dazu führt, dass jeder, so dass wuchtiges Schlusswort, „alleine“ ist.
  10. Damit hat man auch zugleich schon eine vorläufige Bestimmung der Intention, der Aussage des Gedichtes: die Stadt bedeutet Enge, zugleich aber auch eine falsche Nähe, die letztlich eher zu Abgrenzung und Einsamkeit führt.
  11. Interessant in diesem Zusammenhang könnte das folgende Zitat sein:
    „Das Laster der Kleinstadt ist der Klatsch, das Laster der Großstadt Gleichgültigkeit.“
    Näheres dazu findet sich z.B. hier.

Beispiel für ein „Fazit“

Es gibt Lehrkräfte, die fordern ihre Schülis auf, ein „Fazit“ zu schreiben, sagen aber nicht, was das ist.
Wir gehen vom Begriff aus:

  • Ein Fazit ist ein Ergebnis:
  • Bei diesem Gedicht könnte man formulieren.
  • Dieses Gedicht ist ein schönes Beispiel, wie man mit ziemlich gut passenden Bildern zeigen kann, was in einer Großstadt ein Problem sein kann.
  • Die Menschen hocken ganz eng aufeinander, was manchmal ziemlich unangenehm ist.
  • Zugleich aber fühlen sie sich ganz einsam
  • und möchten mit ihren aktuellen Gefühlen nicht einfach von allen anderen wahrgenommen werden.
  • Das kennt jeder, der schon mal schlecht drauf war – und dann möchte man nicht auch noch angestarrt werden.
  • Das ist in einem Dorf oder auf einem einsamen Bauernhof weniger ein Problem. Denn dort hat man es ja mit Leuten zu tun, die man kennt und die einen auch kennen.
  • Und vielleicht bilden sie sogar eine Gemeinschaft. Dann wird jemand, der Probleme hat, nicht einfach nur angestarrt, sondern vielleicht gefragt – und nach einem offenen Gespräch geht es einem meistens besser, als wenn man allein bleibt.
  • All das steckt in diesem Gedicht, zum Teil direkt, zum Teil aber auch indirekt.

Beispiel für ein positives Gegengedicht:

Lars Krüsand,

Wenn Fassaden bröckeln

  1. Ich steige in einen Fahrstuhl
  2. und mir fällt ein,
  3. dass es dort ungeschriebene Gesetze gibt,
  4. wie man Abstand hält.
  5. Ich werde nervös,
  6. angesichts meines Gegenübers,
  7. das die Regel vielleicht besser
  8. beherrscht als ich.
  9. Vor lauter Aufregung,
  10. fallen die Blätter
  11. meiner Vorbereitung auf den Boden,
  12. schnell aufgehoben vom Gegenüber.
  13. Damit war der Bann des Gesetzes
  14. offensichtlich gebrochen.
  15. Die Blicke trafen sich
  16. Und schon ergab sich ein Gespräch.
  17. Sie hatte auch einen Termin,
  18. war nur zur Sicherheit eine Viertelstunde
  19. zu früh – warum nicht nachher wieder
  20. gemeinsam Fahrstuhl fahren
  21. und dann ins Café.

Noch ein Hinweis dazu:

Wer sich auch für die Entstehung dieses Gedichts und die anschließende Diskussion interessiert, findet dazu mehr in unserer Schreibwerkstatt.

    Wer noch mehr möchte …