Wie versteht man ein Gedicht möglichst sicher? Beispiel: Novalis, „Armenmitleid“ (Mat8087-Inhalt)

Worum es hier geht:

Auf der Seite
https://textaussage.de/3-3-klausur-zu-einem-gedicht-wie-bereite-ich-mich-optimal-vor
haben wir gezeigt, wie man in 3 Stunden oder auch in 3 Tagen weiß, wie man ein Gedicht analysiert.

Hier beschäftigen wir uns jetzt mit einem speziellen Teilaspekt, nämlich der Frage:
Wie kann ich mit maximaler Sicherheit ein Gedicht verstehen?

Wir zeigen das am Beispiel des Gedichtes „Armenmitleid“ von Novalis.
Das Gedicht haben wir z.B. hier gefunden.

Worauf es ankommt:

  • Trick 1: Verszeile für Verszeile darauf achten, welche „Signale“ präsentiert werden.
  • Trick 2: Manchmal versteht man eine Zeile nicht gleich richtig, dass muss man
    „hermeneutisch“
    vorgehen.
    Das heißt: Man stellt eine Hypothese auf (Vermutung), aber die muss dann solange beim weiteren Lesen geprüft werden, bis man einigermaßen sicher ist.
  • Trick 3: Am Ende achtet man darauf, welche Signale sich bündeln lassen – auf diese Art und Weise kommt man drauf: Was ist dem Gedicht wichtig? Das sind dann seine Aussagen.

    Wer hier mehr wissen will, findet hier die entsprechenden Erklärungen:
    https://textaussage.de/5-survival-tipps-zur-sicheren-interpretation-bsd-von-gedichten

Herausarbeitung der Signale, ggf. mit Verständnisverstärkung

Novalis

Armenmitleid

  • Signal 1: Es geht um Arme
  • Signal 2: Es geht um Mitleid
  • Unklar: Von wem geht das Mitleid aus und auf wen richtet es sich?
    Arme könnten ja auch mal Mitleid mit Reichen haben.
    Wünschenswert ist natürlich eher das Gegenteil.
  1. Sag an, mein Mund, warum gab dir zum Sange
  2. Gott Dichtergeist und süßen Wohlklang zu,
  3. Ja wahrlich auch, dass du im hohen Drange
  4. Den Reichen riefst aus träger, stumpfer Ruh.
    • Das lyrische Ich spricht mit seinem Mund als dem Organ, mit dem es spricht.
    • Es fragt den Mund rhetorisch, warum es zum Singen
      von Gott
      „Dichtergeist“, als die Fähigkeit zu dichtern
      und „süßen Wohlklang“ bekommt hat (also die Fähigkeit, etwas schön zu präsentieren)
    • In den Zeilen 3 und 4 gibt es sich dann selbst die Antwort
      • der hohe Drang, den es verspürt
      • ist der Ausgangspunkt dafür, „den Reichen“ „aus träger, stumpfer Ruh“ herauszurufen.
        Das lyrische Ich geht davon aus, dass reiche Leute träge werden und dann einfach stumpf vor sich hinleben.
        Kommentar (wichtig für die spätere Stellungnahme)
        Das gilt natürlich nur für die, die erstens Geld genug haben und zweitens solch ein Trägheitsleben überhaupt ertragen können.

        Das dürfte natürlich ein Vorurteil sein – in Wirklichkeit werden reiche Leute durch andere Dinge davon abgehalten, viel Geld an Arme zu verschenken.
  5. Denn kann nicht Sang vom Herzen himmlisch rühren,
  6. Hat er nicht oft vom Lasterschlaf erweckt;
  7. Kann er die Herzen nicht am Leitband führen,
  8. Wenn er sie aus der Dumpfheit aufgeschreckt.
    • Hier gibt es das lyrische Ich sich selbst die Antwort. Es kann mit seinem Singen
      • Menschen mit „Sang vom Herzen“ „himmlisch rühren“, also etwas bei ihnen auslösen, was im Alltag nicht immer da ist.
      • Es kann Menschen sogar vom „Lasterschlaf“ wecken
        Das ist nicht ganz klar, es geht wohl um einen falschen und schwachen Einsatz der eigenen Kräfte.
      • Es kann Menschen sogar am „Leitband führen“, also ihnen helfen, in die richtige Richtung zu gehen.
      • Voraussetzung ist, dass diese Menschen aus „Dumpfheit“ „aufgeschreckt“ werden.
        Sie müssen also auch mal erschreckt werden, um überhaupt aus zu wenig Denken und zu wenig gutes Handeln rauszukommen.
        Man sieht hier, wie wichtig es ist, nicht ganz klare Formulierungen des Gedichtes mit eigenem Verständnis zu füllen. Das muss aber später überprüft und ggf. korrigiert werden, wenn man das Gedicht insgesamt verstanden hat.
  9. Wohlauf; hört mich, ihr schwelgerischen Reichen,
  10. Hört mich doch mehr noch euren innren Ruf,
  11. Schaut um euch her, seht Arme hilflos schleichen,
  12. Und fühlt, dass euch ein Vater nur erschuf.
    • Diese Strophe beginnt mit einem Aufruf.
    • Der richtet sich an die „schwelgerischen Reichen“, also Leute, die reich sind und diesen Reichtum nur für sich nutzen.
    • Sie sollen auf das hören, was dieses Gedicht ausdrückt, sie sollen aber auch auf ihren „innren Ruf“ hören. Damit ist wahrscheinlich das Gewissen gemeint.
    • Es folgt die Aufforderung, um sich herumzuschauen und dabei auf „Arme“ zu achten, die „hilflos schleichen“, also in Not sind und schon ziemlich schwach.
    • Am Ende dann etwas Besonderes: Die Reichen sollen daran denken, dass alle Menschen von einem Vater geschaffen worden sind. Damit ist wohl Gott gemeint.

Kurz-Bündelung der der Signale zu Aussagen:

Wir haben hier das nach vorne gezogen, auf was wir weiter unten gekommen sind.
Aber wir hatten Angst, dass man gleich erschlagen ist, wenn man glaubt, auf all das muss man kommen.
Hier also die Kurzform:

Das Gedicht zeigt,

  1. dass mit Dichtung besondere Fähigkeiten verbunden sind
  2. und besondere Wirkungen erreicht werden können.
  3. Es konzentriert sich auf die Reichen und
  4. fordert sich selbst und indirekt auch alle anderen, die das können, auf, diesen Menschen, die kein Geld mehr verdienen müssen und es zum Teil auch einfach nur noch ausgeben, ins Gewissen zu reden.
  5. Vor allem sollen sie daran denken, dass alle Menschen von Gott geschaffen worden sind. Das heißt: Wenn es auf der Erde zu Ungerechtigkeiten kommt, soll man an die etwas von seinem Reichtum abgeben.

Detaillierte Bündelung der Signale zu Aussagen:

Am besten schaut man, wie man den folgenden Satzanfang fortsetzen kann:

Das Gedicht zeigt …

Und dann kommt  hier zum Beispiel:
Wir führen hier alles auf, was einem einfallen kann. Weiter unten kommt dann eine kurze Zusammenfassung.
Das muss man nicht alles haben – aber wenn man es nicht einmal gezeigt bekommt, kommt man auf gar nichts.

  1. dass das lyrische Ich glaubt, dass Dichter und Dichterinnen über besondere Fähigkeiten verfügen
  2. und dass damit auch die Verpflichtung verbunden ist, den Reichen ins Gewissen zu reden.
  3. Denen wird zu geringe Tätigkeit vorgeworfen.
    Das gilt sicher zumindest für die, die es eigentlich nicht mehr nötig haben, Geld zu verdienen und damit etwas Gutes tun könnten.
  4. dass es im einzelnen um die folgenden Fähigkeiten geht:
    1. „himmlisch rühren“
      Damit ist wohl etwas gemeint, was man aus bestimmten Filmen kennt, dass ein Reicher in einer bestimmten Situation plötzlich mehr oder weniger zu Tränen gerührt ist und dann für einen Menschen in Not etwas tut.
      [Schon mal kreative Möglichkeit notieren: Man kann nach entsprechenden Fällen suchen oder sich einen möglichst überzeugend ausdenken.]
    2. vom „Lasterschlaf erwecken“
      Gemeint ist damit wohl ein falsches Leben, das einem sogar lasterhaft vorkommen kann.
      [Auch hier kann man nach entsprechenden Fällen suchen oder sich einen möglichst überzeugend ausdenken.]
    3. die Herzen „am Leitband führen“
      Hier geht das lyrische Ich sogar so weit, dass es glaubt, dauerhaft bei einem Reichen etwas bewegen zu können.
      [Mal überlegen, wie so etwas funktionieren kann.]
    4. aus „Dumpfheit“ aufschrecken.
      [Auch hier kann man sich überlegen, wie so ein „Aufschrecken“ aussehen kann – und was „Dumpfheit“ sein könnte.]

Von den Aussagen aus das Thema des Gedichtes bestimmen:

Wir haben ja empfohlen, zu Beginn der Arbeit erst mal das Thema offen zu lassen. Denn man muss das Gedicht erst verstanden haben, dann erkennt man, worum es geht.

Man kann also überlegen: Auf welche Frage geben die Aussagen eigentlich eine Antwort?

Und hier könnte man formulieren:

  • Das Gedicht beschäftigt sich mit der Frage, worum sich Dichter und Dichterinnen im Hinblick auf reiche Leute bemühen sollten.
    Oder:
  • Das Gedicht beschäftigt sich mit der Frage, was Dichter und Dichterinnen tun können, um mehr soziale Gerechtigkeit in der Welt zu erreichen.

„Inhaltsangabe“ zu den Strophen

  • Das Problem:
    • Seit einiger Zeit gibt es die Aufgabe, kurz den Inhalt der Strophen eines Gedichtes zu beschreiben.
    • Das scheint ein leichter Einstieg in die Beschäftigung mit einem Gedicht zu sein – ist es aber häufig nicht. Der Grund: Gedichte haben selten eine Handlung wie zum Beispiel eine Kurzgeschichte. Ausnahme: Balladen.
    • Ansonsten bestehen Gedichte aus Gedanken, Gefühlsäußerungen, Beschreibungen u.ä.
  • Lösungsvorschlag:
    • Am besten versucht man kurz zu beschreiben, was eine Strophe enthält.
    • Wir versuchen das hier mal.
    • Ansonsten sollte man seine Lehrkraft fragen, was sie denn unter der „Inhaltsangabe einer Strophe“ versteht. Dann spätestens hat man Klarheit und Sicherheit.

Inhaltsangabe zu Strophe 1

In der ersten Strophe stellt das lyrische Ich zunächst die Frage, warum es als Dichter/in über besondere Fähigkeiten verfügt. Dann kommt die Antwort: Eine Aufgabe bestehe darin, reiche Menschen aus ggf. vorhandener Trägheit herauszureißen.

  • Sag an, mein Mund, warum gab dir zum Sange
  • Gott Dichtergeist und süßen Wohlklang zu,
  • Ja wahrlich auch, dass du im hohen Drange
  • Den Reichen riefst aus träger, stumpfer Ruh.

Inhaltsangabe zu Strophe 2

In der zweiten Strophe erinniert sich das lyrische an Situationen, in denen es ihm gelungen ist,  reiche Menschen aufzuwecken.

  • Denn kann nicht Sang vom Herzen himmlisch rühren,
  • Hat er nicht oft vom Lasterschlaf erweckt;
  • Kann er die Herzen nicht am Leitband führen,
  • Wenn er sie aus der Dumpfheit aufgeschreckt.

Inhaltsangabe zu Strophe 3

In der dritten Strophe kommen Aufrufe und Aufforderungen. Die gehen alle in die Richtung, nicht nur einfach den Reichtum zu genießen. Vielmehr sollen reiche Menschen daran denken, dass eigentlich alle Menschen gleich geschaffen worden sind. Daraus entstehe eine Verantwortung, sich um Arme und Schwache zu kümmern.

  • Wohlauf; hört mich, ihr schwelgerischen Reichen,
  • Hört mich doch mehr noch euren innren Ruf,
  • Schaut um euch her, seht Arme hilflos schleichen,
  • Und fühlt, dass euch ein Vater nur erschuf.

Was kann man mit so einem Gedicht anfangen?

  • Natürlich kann man eine Art Gegengedicht schreiben, wenn man das alles, was da steht, für nicht realisierbar hält.
  • Aber man kann auch daran denken, wie man selbst nach einem Film oder einem Konzertbesuch anders rauskam, als man reingegangen war.
    Oder man hat sonst irgendwo mal etwas erlebt, was einen dazu gebracht hat, sich für andere Menschen zu engagieren.
    Und dazu könnte man zum Beispiel eine Geschichte schreiben.

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