Büchner, Woyzeck, wie gestaltet man trotz geringer Textkenntnis die erste Stunde optimal?

Das kann passieren – in Sorge wegen des Beginns mit einer Lektüre

  • Es gibt Situationen, in denen man ganz plötzlich vor einer Herausforderung steht. Und man hat eigentlich nicht mehr genügend Zeit, um sich optimal vorzubereiten.
  • Stellen wir uns also vor, im Unterricht soll Büchners Drama „Woyzeck“ besprochen werden und man hat es aus irgendeinem Grunde nicht geschafft, das bis zu dem entsprechenden Termin komplett zu lesen.
  • Dann kann man ehrlich sein, dazu stehen, sich eine entsprechende schlechte Note einfangen und Besserung geloben.
  • Das ist aber meistens mit schlechten Gefühlen verbunden – sowohl auf der Seite der Lehrenden als auch der Lernenden.

Hinweis auf das Video 1 mit der individuellen Lösung

Inzwischen gibt es auch ein Video zu diesem Thema, in dem eine intelligente Lösung vorstellt, mit der jemand die erste Stunde sehr gut überstehen kann.

Das Video ist hier zu finden:

Videolink
Die Dokumentation kann hier heruntergeladen oder angeschaut werden.

mat4150 mi0831 fiktiv woyzeck – erste stunde – aus minimaler textkenntnis viel machen

Hinweis auf das Video 2 mit der allgemeinen Lösung

Dieses Video liefert alles, womit man zu einem eigenen guten Erst-Verständnis kommen kann.

Die Dokumentation kann hier heruntergeladen oder angeschaut werden.

So könnte eine Lösung für Spät-Leser aussehen

  • Also suchen wir doch mal nach einer besseren Lösung. Nicht die beste Lösung ist es, einfach nur eine Inhaltsangabe zu lesen. Das Problem dabei ist, dass man überhaupt noch nicht in Kontakt mit dem Text gekommen ist.
  • Besser ist es, die Lektüre in die Hand zu nehmen und sich gezielt einige Stellen zeigen zu lassen. Die markiert man sich dann und kann damit zumindest ein minimales Lektüre-Erlebnis vorweisen.
  • Außerdem beginnt jede erfolgreiche Wanderung mit einem ersten Schritt und es ist sehr vernünftig, diese Lichtungen im Text-Urwald später auszubauen.

Lösung, Teil 1: Nicht nur Inhaltsangabe lesen, sondern mit dem Thema beschäftigen

  • Normalerweise lesen Schüler in Not eine Inhaltsangabe und hoffen dann, nicht dranzukommen.
  • Das ist besser als nichts – hat aber den Nachteil, dass das eigene Lektürebuch ziemlich „unbefleckt“ aussieht.
  • Aber noch viel schlimmer – eine Inhaltsangabe klingt auch nach Inhaltsangabe. Damit kann man nicht gut punkten.
  • Besser ist es, den Inhalt mit dem Thema zu verbinden.
  • Unser Vorschlag für Woyzeck:
    • Büchners „Woyzeck“ soll ja etwas ganz Neues sein, weit weg vom klassischen Drama mit seinen fünf Akten. Trotzdem ist es eine Tragödie, die man in fünf Entwicklungsschritte einteilen kann.
    • Schritt 1: Exposition: Ausgangssituation: Der einfache Soldat Woyzeck ist arm ganz dran, wirkt ganz „verhetzt“, weil er für seine Freundin und das gemeinsame Kind sorgen muss und auch noch von Vorgesetzten schikaniert wird. Seine Freundin Marie sieht ihn nur selten und ist unglücklich.
    • Schritt 2 – Steigerung des Konflikts: Marie hält Ausschau nach anderen Männern und erregt das Interesse eines Unteroffiziers, der ihr sogar Ohrringe schenkt. Woyzeck entdeckt sie, lässt sich aber erst noch mal mit einem angeblichen Fund beruhigen.
    • Schritt 3 – Höhe- und Wendepunkt: Marie geht tatsächlich fremd mit dem Unteroffizier und Woyzeck sieht sie gemeinsam tanzen. Das versetzt ihn in Erregung und er fängt an, Tötungsfantasien zu entwickeln.
    • Schritt 4: Verzögerung: Woyzeck bereitet seinen Abgang vor, verteilt die Sachen an seinen Kameraden, die er nicht mehr braucht, besorgt sich ein Messer. Noch ist nicht klar, ob das für ihn, den Unteroffizier oder die ungetreute Marie ist.
    • Schritt 5: Woyzeck lockt seine Freundin ins Freie und bringt sie auf ziemlich brutale Art und Weise um. Er läuft dann weg, aber in einer Kneipe wird Blut an ihm entdeckt und alles spricht dafür, dass er verhaftet und bestraft wird. Darauf wird nicht genauer eingegangen, weil das ganze Fragment geblieben ist.

Lösung, Teil 2: Einige wichtige Textstellen kennen und bearbeiten

  • Im folgenden probieren wir das einfach mal an fünf Textstellen in Büchners Woyzeck aus.
  • Als erstes nimmt man sich die erste Szene vor und stellt dort fest, dass die Hauptfigur des Dramas wohl Wahnvorstellungen hat.
  • Als zweite Textstelle nehmen wir die Szene, in der der Doktor Woyzeck Vorwürfe macht, weil er bei dem seltsamen Erbsenexperiment keinen Urin abgeben kann. Diese Stelle macht nämlich deutlich, dass Woyzeck sich allein von der Ernährung her in keinem Normalzustand mehr befindet,
  • Als Drittes kann man die sogenannte Rasier-Szene einbeziehen. Die macht nämlich deutlich, dass Woyzeck als einfacher Soldat noch einer Nebenbeschäftigung nachgeht. Sein Hauptmann stellt fest, dass Woyzeck immer „verhetzt“ aussieht. D.h. der ist ständig beschäftigt, sich selbst, seine Freundin Marie und das gemeinsame Kind zu versorgen.
  • Als nächstes kann man drei Textstellen zusammenfügen, die zeigen, dass Marie, die Freundin, versucht, sich aus dem engen, armseligen Umfeld ihres Freundes Woyzeck zu befreien.
    • Sie bewundert ein besonders einen Tambourmajor, der ihr im Vergleich zu ihrem Freund wie ein Löwe vorkommt.
    • Von dem bekommt sie dann ein paar Ohrringe geschenkt, was Woyzeck misstrauisch macht. Aber er glaubt Marie, dass sie tatsächlich diese zwei Ohrringe zufällig gefunden hat.
    • Als dritte Stelle kann man dann die Szene hinzunehmen, in der Marie nicht mehr viel Widerstand leistet, als der Tambourmajor mit ihr eine regelrechte „Zucht“ von Kindern anlegen will.
  • Als letztes nimmt man dann die Stelle, in der Woyzeck Marie regelrecht abschlachtet. Die kann man nämlich gut mit einer Frage verbinden.

Lösung, Teil 3: Eigeninitiative zeigen – und gleich am Anfang eine Frage stellen

  • Ausgehend von der letzten Textstelle kann man Eigeninitiative zeigen, indem man einfach Marie entschuldigt. Sie ist ja nicht verheiratet mit Woyzeck. Warum soll sie nicht versuchen, von ihm wegzukommen und ein besseres Leben zu erreichen. Ob das gelingt, ist dann eine ganz andere Frage.

Vorläufige Zusammenfassung der Aussagen (Intentionalität)

  1. … die schwierige Situation eines Soldaten, der
    1. ein unehrliches Kind hat und
    2. rotzdem versucht alles zu tun, um es zusammen mit der Mutter versorgen.
    3. Seine Situation wird erschwert durch die Unterdrückung und Ausbeutung durch zwei Vorgesetzte, einen Doktor und einen Hauptmann.
  2. .… dass dieser Soldat keine Unterstützung durch Kameraden findet, wobei allerdings festzuhalten ist, dass in dem Stück nur von möglichen Kameraden die Rede ist.
  3. .… dass die Situation bei Woyzeck eskaliert und er schließlich planmäßig den tödlichen Ausstieg aus der Situation vorbereitet. Sehr schnell sagt etwas in ihm, dass er seine Freundin töten soll.
  4. .… dass Woyzecks Freundin Marie versucht, sich durch die heimliche Verbindung mit dem Tambourmajor aus der Situation heraus zu lösen..
  5. .… dass es keine echte Kommunikation zwischen Woyzeck und Marie gibt. Man fragt sich, warum das so ist. Zumindest am Ende versucht Marie ja, Woyzeck von seiner Mordtat abzuhalten. Vorher gibt es Hinweise, dass Woyzeck verstört ist. Offensichtlich liegen die Ursachen der Beziehungsprobleme zunächst eher bei ihm. Warum das so ist, wird im Stück nicht geklärt.
  6. .… dass offensichtlich Wahnsinn bei Woyzeck eine Rolle spielt. Auch hier keine Erklärung. Dass die Erbsenkultur die Ursache ist, ist eher unwahrscheinlich. Auch hier beschreibt das Drama nur einen Zustand, geht nicht auf die Voraussetzungen ein.
  7. .… die Unfähigkeit, Oberflächlichkeit, Morallosigkeit der höheren Gesellschaftsschicht, während es bei Woyzeck zumindest noch Ansätze von Vernunft und Moral gibt. (Vgl. das Gespräch mit dem Hauptmann in der Rasierszene)

Fragen und Diskussionspunkte

  1. Was ist so besonders, so außergewöhnlich an der Situation dieses Soldaten, dass er darüber wahnsinnig wird?
  2. Warum findet Woyzeck keine Unterstützung bei einem anderen Menschen? Liegt das an ihm? Oder liegt es an Büchner, der diese Möglichkeit ausschließen wollte. Was lässt sich denn als Aussage für uns heute entnehmen?
  3. Ist das nicht eher entmutigend, statt dass das Drama zumindest den Versuch zeigt, in einen hilfreichen Kontakt zu anderen Menschen zu treten.
  4. Ist es nicht ein Problem des Stückes, dass Woyzeck erst gezeigt wird, als er offensichtlich wahnsinnig geworden ist? Wäre es nicht wichtig zu wissen, welche Alternativen er vielleicht gehabt hätte?
  5. Ist Maries Versuch, für sich selbst einen Ausweg aus der Situation zu suchen, nicht über aus berechtigt? Ganz gleich, wie realistisch er ist?
  6. Warum gibt es auch nicht den Ansatz einer echten Kommunikation zwischen Marie und Woyzeck? Liegen auch da die Probleme, vielleicht auch die Versäumnisse in der Zeit vor dem Stück? Wie kann man ihm dann eine Aussage entnehmen, mit der man etwas anfangen kann?
  7. Ist die brutale Tötung Maries letztlich nicht völlig unverständlich? Denn es gibt nur zwei Möglichkeiten:
    1. Entweder entspringt sie wirklich dem Wahnsinn Woyzecks. Dann ist die Frage. Was haben wir damit zu tun?
    2. Oder ist sie vielleicht doch das hemmungslose Ausleben egoistischer und dann aggressiver Männlichkeit? Die mag aus damaliger Zeit verständlich sein, aber was haben wir damit zu tun?
  8. Wieso werden die beiden Vertreter einer höheren Gesellschaftsschicht so einseitig, satirisch überzeichnet präsentiert? Wäre es nicht viel sinnvoller, den Dr und den Hauptmann vielleicht doch eher als gebrochene Figuren statt nur in Unfähigkeit und Bösartigkeit zu zeigen. Auch hier wieder die Frage an Büchner: Konnte oder wollte er nicht zeigen, dass es auch andere Vertreter dieser Schicht geben konnte.
  9. Letztlich läuft alles auf die Frage hinaus: Gibt es überhaupt einen Grund, dieses Stück heute noch zu lesen und zu besprechen. Denn dass Büchners Woyzeck zu seiner Zeit eine neue Art von Literatur darstellte, reicht als Grund kaum aus für Leute, die nicht Literaturwissenschaft studieren wollen.
  10. Und die Begeisterung über die offene Form des Dramas in diesem Stück wird wohl auch fragwürdig, wenn man berücksichtigt, das ist ja gar nicht fertig geworden ist. Etwas überspitzt könnte man sagen: jedes Fragment hat die Chance, als offene Form gesehen zu werden.

Fazit

  1. Wenn man sich das alles hier klar gemacht hat, hat man in 15 Minuten einen ganz guten Überblick über Inhalt und auch Thematik des Dramas und hat auch schon einen ersten Diskussionspunkt geliefert. Mehr wird sicherlich nicht in einer ersten Stunde der Besprechung des Stückes verlangt. Der große Vorteil bei diesem Verfahren: Man hat schon Ansatzpunkte im Text, die man ausbauen kann.
  2. Vielleicht kann man durch einen geschickten Anfangsimpuls (hier die Verteidigung von Marie) sogar dafür sorgen, dass die Besprechung des Stückes nicht mit einem Textkenntnistest beginnt, sondern mit einem wirklichen Gespräch über das Drama. Im Idealfall hat man gewissermaßen ein Ball ins Spielfeld geschoben, der Sohn von Mitschülern aufgenommen wird und am Ende sind alle gut zufrieden.
  3. Das ist hier durchaus ernstgemeint. Es geht nicht darum irgendeine angebliche oder reale Faulheit von Schülern zu unterstützen, sondern aufzuzeigen, wie man am besten mit Situationen umgeht. Und jede gute Lehrkraft nutzt lieber positive Impulse im Unterricht, als dass sie Defizite feststellt.

Weiterführende Hinweise