Worum es hier geht:
Auf der Seite
https://textaussage.de/ki-chatprogramm-check-einer-kurzgeschichte-zum-thema-die-leere-seite
haben wir uns mal eine Kurzgeschichte mit kritischem Blick angeschaut, die uns zugesandt worden ist. Sie soll von einem Chatprogramm geschrieben worden sein.
Anders Tivag hat sich dann angeboten, es mit dieser Lösung mal aufzunehmen.
Dabei ist die folgende Kurzgeschichte entstanden.
Anders Tivag
Die leere Seite
- „Endlich mal ein ruhiger Abend. Nach der großen Geburtstagsfeier war auch die jüngste Tochter ausgezogen, die Frau hatte das gleich genutzt, um endlich mal wieder eine Freundin zu besuchen, nichts tat weh.
- Er hoffte inständig, dass das so bleiben würde, wenn er gleich den Laptop aufklappte. Vielleicht hätte er doch den Startbildschirm ändern sollen. Dieses fröhliche „Mach diesen Tag zu deinem!“ funktionierte schon seit einigen Tagen nicht mehr.
- Dabei hatte er soviel Glück gehabt. Andere hatten Tagebuch geschrieben – er verfremdete seine Erlebnisse lieber in kleinen Geschichten.
- Irgendwann hatte er sie einem Freund gezeigt – und der war beeindruckt. Das war auch seine neue Freundin, die bei einem Verlag arbeitete.
- Hinter seinem Rücken hatte er ihr die Geschichten auch zum Lesen gegeben – und dann ging es Schlag auf Schlag. Am Ende fand er sich im Herbstprogramm des Verlags wieder. Allerdings hatte er auf einem Pseudonym bestanden. Immerhin waren es ja eigentlich Tagebuchgeschichten – und die möchte man doch nicht so direkt auf dem Markt sehen.
- Tatsächlich gab es sogar Verkäufe und Einnahmen. Seine Frau meinte, jetzt könnten sie sich doch endlich diese Weltreise leisten. Auf einem Kreuzfahrtschiff – mehrere Monate.
- Er fing an, sich an diese Vorstellung zu gewöhnen.
- Dann der Anruf, die Einladung zu einem Gespräch – der nächste Katalog war in Planung. Ob er nicht einen zweiten Band von Kurzgeschichten folgen lassen könnte.
- Warum nicht – aber jetzt saß er hier – die Weinflasche halb leer – der Laptop zwar inzwischen aufgeklappt, aber dieses Motto mit dem Tag, der seiner werden sollte, kam ihm wie Hohn vor. Fast sah er schon, wie die Buchstaben sich halloween-artig veränderten.
- Ihm fiel einfach nichts ein – das war doch bei den Geschichten des ersten Bandes ganz anders gewesen. Er blickte auf das Erfolgsbuch und den Titel „Das Tagebuch, das eigene Wege ging“. Ja, es war eigentlich ein Tagebuch gewesen. Er musste sich nichts ausdenken – zumindest nicht viel. Ein bisschen Verfremdung. Er war damit damit durchgekommen. Von ihm und seiner Frau eisernes Schweigen – bei den Freunden und Kollegen hatte das Buch anscheinend keiner gelesen.
- Er kam von dem Titel nicht los – und dann der langsam sich öffnende Spalt im Vorhang seines Bewusstseins: Beim Tagebuch kommt erst das Erlebnis und seine Verarbeitung – und dann vielleicht eine Geschichte. Jetzt versuchte er es umzudrehen – zwanghaft – und das war eben das Gegenteil von einer Haltung, bei der man den Strömen der Kreativität ihren Lauf lässt.
- Das war es – er musste wieder etwas erleben.
- Der Rest ging dann ganz schnell: Eine Mail an seinen Arbeitgeber mit dem Hinweis auf die noch vielen Resttage Urlaub – ihm stand inzwischen ein halbes Sabbatjahr zu, auf das er lange hingespart hatte. Morgen würde er mit seiner Frau überlegen, was sie unternehmen könnten, um wieder sein Tagebuch zu füllen. Schon stellte er sich vor, wie er in den ersten Tagen dieser langen Kreuzfahrt die anderen Passagiere beobachten konnte. Er würde sicher auch welche finden, aus denen sich Geschichten machen ließen. Jetzt musste er nur noch dem Verlag klarmachen, dass er lieber erst Teil des übernächsten Programms werden wollte – aber mit einem echten Hammer-Erlebnis-Buch.
- Er hatte auch schon eine Idee für den Titel: „Wellengänge – wenn man jeden Tag zu seinem macht“
- Als kurz darauf seine Frau nach Hause kam, war die nicht so begeistert. „Joachim, toll, endlich willsst du dich mit mir auf diese Reise machen. Aber das mit den Geschichten – das vergiss mal. Ich sehe dich schon den ganzen Tag mit suchendem Blick rumlaufen und sich an die Gespräche anderer Leute ranschleichen. Abends dann bis in die Nacht hinein nichts als ein flackernder Bildschirm in der Kabine. So habe ich mir das nicht vorgestellt.
- Joachim merkte, wie seine Stimmung ins Bodenlose sackte. Das konnte ja heiter werden.- Jetzt würde er unter Beobachtung stehen – Tag und Nacht – und sich ständig entschuldigen müssen. Er schloss den Laptop und ging wortlos ins Bad.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Kurzgeschichten interpretieren – Infos, Tipps und Materialien (Themenseite)
https://textaussage.de/kurzgeschichten-interpretieren-themenseite
— - „Kreatives Schreiben“
https://textaussage.de/kreativ-im-deutschunterricht-themenseite
— - Übersicht über Texte von Anders Tivag
https://textaussage.de/anders-tivag-ein-schoenes-beispiel-fuer-einen-behelfsschriftsteller
— - Infos, Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
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