Anmerkungen zu Annette von Droste-Hülshoff, „Das Spiegelbild“ (Mat4202)

Im Folgenden geht es um ein Gedicht, in dem sich ein lyrisches Ich mit seinem Spiegelbild konfrontiert sieht.

https://www.droste-portal.lwl.org/de/werk/lyrik/ausgabe-1844/gedichte-vermischten-inhalts/das-spiegelbild/

Hierzu gibt es auch eine Fünf-Minuten-Kurzfassung:
https://textaussage.de/5-min-tipp-zu-annette-von-droste-huelshoff-das-spiegelbild-mat4203

Das Spiegelbild

Schaust du mich an aus dem Kristall,

Mit deiner Augen Nebelball,

Kometen gleich die im Verbleichen;

Mit Zügen, worin wunderlich

Zwei Seelen wie Spione sich

Umschleichen, ja, dann flüstre ich:

Phantom, du bist nicht meines Gleichen!

  • Das Gedicht beginnt damit, dass das lyrische Ich sein Spiegelbild anspricht.
  • Dabei fällt ihm „der Augen Nebelball“ auf, d.h. sie erscheinen ihm etwas unklar.
  • Das Zweite, was dem lyrischen ich in seinem Spiegelbild auffällt, sind die Gesichtszüge. Es hat den Eindruck, dass sich da zwei Seelen „wie Spione“ umschleichen.
  • Das heißt: Dieses Spiegelbild beunruhigt das lyrische Ich, es fühlt sich beobachtet, ja sogar erforscht.
  • Dazu passt dann auch die abschließende Feststellung: Das Spiegelbild wird als „Phantom“ verstanden, das eigentlich nicht zu einem selbst passt.

 

Bist nur entschlüpft der Träume Hut,

Zu eisen mir das warme Blut,

Die dunkle Locke mir zu blassen;

Und dennoch, dämmerndes Gesicht,

Drin seltsam spielt ein Doppellicht,

Trätest du vor, ich weiß es nicht,

Würd‘ ich dich lieben oder hassen?

  • Es folgen Vermutungen, die das Gefühl der Abwehr noch verstärken. Das Spiegelbild wird in die Welt der Träume verwiesen. Außerdem wird ihm unterstellt, dass es die Wärme des eigenen Blutes, also des Selbstgefühls, „vereisen“ soll.
  • Eine zweite Wirkung bezieht sich auf die „dunkle Locke“, die im Spiegel bald blasser erscheint. Das passt zu dem Eindruck, den das Spiegelbild in der ersten Strophe bereits gemacht hat.
  • Diese Strophe ist dann nicht mehr so eindeutig negativ in der ersten Strophe. Immerhin wird hier zugestanden, dass man noch nicht weiß, ob man es „lieben oder hassen“ wird, wenn man ihm begegnen würde.

 

Zu deiner Stirne Herrscherthron,

Wo die Gedanken leisten Frohn

Wie Knechte, würd ich schüchtern blicken;

Doch von des Auges kaltem Glast,

Voll todten Lichts, gebrochen fast,

Gespenstig, würd, ein scheuer Gast,

Weit, weit ich meinen Schemel rücken.

  • Die dritte Strophe spielt dann eine mögliche Begegnung weiter durch.
    • Der Stirn des Spiegelbilds wird etwas Herrschaftliches zu erkannt.
    • Erstaunlich negativ werden die Gedanken gesehen, die sich dahinter abspielen.
    • Das lyrische Ich sieht sie von etwas Größerem, Mächtigerem beherrscht.
  • Das führt dazu, dass sie sich selbst auch in die Rolle und Haltung eines Knechte versetzt.
  • Der Schluss dieser Strophe ist noch negativer als am Anfang, das lyrische Ich käme sich regelrecht „gebrochen“ vor und würde versuchen sich weit davon zu entfernen.

 

Und was den Mund umspielt so lind,

So weich und hülflos wie ein Kind,

Das möcht in treue Hut ich bergen;

Und wieder, wenn er höhnend spielt,

Wie von gespanntem Bogen zielt,

Wenn leis‘ es durch die Züge wühlt,

Dann möcht ich fliehen wie vor Schergen.

  • Die nächste Strophe präsentiert dann wieder ein doppeltes und gegensätzliches Gefühl.
  • Es sieht im Bereich des Mundes beim Spiegelbild durchaus etwas Kindliches, wäre auch bereit es zu behüten.
  • Dann folgt wieder eine negative Interpretation eines Gesichtsausdrucks, der als bedrohlich empfunden wird und vor dem man fliehen möchte.

 

Es ist gewiß, du bist nicht Ich,

Ein fremdes Dasein, dem ich mich

Wie Moses nahe, unbeschuhet,

Voll Kräfte die mir nicht bewust,

Voll fremden Leides, fremder Lust;

Gnade mir Gott, wenn in der Brust

Mir schlummernd deine Seele ruhet!

  • Diese Strophe interpretiert noch einmal zusammenfassend die Situation, in der das lyrische Ich sich vor dem Spiegelbild befindet.
  • Es sieht dort nur ein „fremdes Dasein“, dem es sich wie in der Bibel Moses Gott, einer höheren Macht nähert  – mit Demut (ohne Schuhe) und von unbewussten Kräften angetrieben.
  • Den Schluss bildet die Angst vor einer Gefahr, dass die Seele des Spiegelbildes in einem selbst sein könnte.

 

Und dennoch fühl ich, wie verwandt,

Zu deinen Schauern mich gebannt,

Und Liebe muß der Furcht sich einen.

Ja, trätest aus Kristalles Rund,

Phantom, du lebend auf den Grund,

Nur leise zittern würd ich, und

Mich dünkt – ich würde um dich weinen!

  • Die letzte Strophe präsentiert dann ein gewisses Maß an Harmonie. Das lyrische Ich fühlt sich dem Spiegelbild trotz aller Schauer verwandt und von ihm gebannt.
  • Es stellt sich vor, dass sowohl Liebe als auch Furcht in ihm sein würde, wenn dieses Spiegelbild sich plötzlich als lebendig und begegnungsfähig erweisen würde.
  • Am Ende bleibt ein aufgewühltes Gefühl (zittern) aber auch ein Gefühl der Trauer um dieses Spiegelbild.
  • Es bleibt offen, was damit genau gemeint ist. Eine Hypothese wäre, dass dieses Spiegelbild das lyrische Ich dazu gebracht hat, sich selbst intensiver wahrzunehmen.
  • Offensichtlich geht das lyrische Ich nicht wirklich davon aus, dass dieses Spiegelbild lebendig wäre, gewissermaßen ein Zwilling.
  • Vielleicht nimmt es auch an, dass dieses Spiegelbild eben nur diese ganz spezielle Existenz hat, die letztlich vom Spiegel erzeugt wird und nur in der eigenen Fantasie existiert.

Das Gedicht zeigt:

  1. Die Gefühle eines Menschen, die in ihm entstehen, wenn es sein Spiegelbild sieht.
  2. Deutlich wird, dass das Spiegelbild keine Kopie ist beziehungsweise nicht exakt dem entspricht, was das lyrische Ich sich von sich selbst vorgestellt hat.
  3. Das hat einen beunruhigenden Effekt, wobei man nicht weiß, ob der mit der anscheinend etwas überraschenden Situation dieser Begegnung zusammenhängt. Es könnte ja auch sein, dass man sich an sein Spiegelbild gewöhnt.
  4. Es gibt aber auch Elemente im Spiegelbild, die sich mit schönen Erinnerungen verbinden lassen.
  5. Am Ende steht die Fantasie, das Durchspielen einer möglichen Begegnung, die aber am Ende eher zum Weinen ist als Grund für Freude. Das kann mit der Begrenztheit der Existenz des Spiegelbildes zu tun haben.

Das Thema dieses Gedichtes ist die Frage, was ein Mensch sehen und fühlen kann, wenn er sich selbst im Spiegel sieht.

Kreative Anregung:

Man kann das ja mal für sich selbst ausprobieren und dabei prüfen, was einem im Spiegelbild auffällt, was man schön und beruhigend findet und was vielleicht auch beunruhigend.

Was Annette von Droste Hülshoff noch nicht konnte, können wir heute ausprobieren. Wir können gleichzeitig das Spiegelbild und uns selbst fotografieren lassen. Das kann man dann vergleichen, muss sich aber bewusst bleiben, dass auch ein Foto natürlich nicht genau das zeigt, was man selbst sieht.

Interessant könnte auch ein Experiment sein, bei dem man gar nicht gleich vor den Spiegel tritt und sich erst mal so vorstellt, wie man sich selbst sehen würde.

Wer noch mehr möchte …