Franz Werfel, „Der rechte Weg“ – oder: Wie Expressionismus in einem Gedicht entsteht (Mat1975)

Worum es hier geht:

Vorgestellt wird ein Gedicht von Franz Werfel, das in seinem Verlauf immer mehr expressionistische Züge aufweist und schon fast in die Nähe von Kafka gerät.

Zu finden ist es u.a. hier.

Alternativ-Seite: Erfassung Inhalt-Aussage-Rhytmus

Auf einer anderen Seite haben wir eine Übung zur Vorbereitung auf eine Klassenarbeit zu diesem Gedicht erstellt.

Dort geht es vor allem um

  1. Die inhaltliche Erschließung bis hin zum Aussagepotenzial des Gedichtes
  2. Die Frage des Rhythmus

Die Seite kann hier aufgerufen werden:
https://textaussage.de/uebung-klassenarbeit-franz-werfel-der-rechte-weg-inhalt-rhythmus

Auswertung der Überschrift und Formulierung eines Themas

Franz Werfel

Der rechte Weg

  • Die Überschrift gibt eine Richtung vor, bei der es um richtige Orientierung geht.
  • Später wird deutlich, dass dieses Gedicht dabei vom Konkreten ins Allgemeine geht und sich fragt, wie es grundsätzlich mit dem „rechten Weg“ für den Menschen und/oder die Gesellschaft aussieht.
Strophe 1

Ich bin in eine große Stadt gekommen.
Vom Riesenbahnhof trat den Weg ich an,
Besah Museen und Plätze, habe dann
Behaglich eine Rundfahrt unternommen.

  • Das lyrische Ich beginnt sehr zurückhaltend – von Expressionismus ist noch nicht so richtig was zu spüren.
  • „Riesenbahnhof“ reicht als Signal allein dafür nicht aus.
  • Völlig „unexpressionistisch“ ist das Wort „Behaglich“, das eher in die Goethezeit passt.
Strophe 2

Den Straßenstrom bin ich herabgeschwommen
Und badete im Tag, der reizend rann.
Da! Schon so spät!? Ich fahre aus dem Bann.
Herrgott, mein Zug! Die Stadt ist grell erglommen.

  • Auch die zweite Strophe bietet noch wenig Expressionistisches.
  • „Straßenstrom“ ist allerdings schon ein Zeichen für das Lebensgefühl der Menschen in der Großstadt.
  • Es bleibt aber dabei, dass das lyrische Ich regelrecht in der Stadt „badete“, eher etwas sehr Positives. Und „reizend“ geht in die gleiche Richtung.
  • In der dritten Zeile der Strophe dann die Veränderung. Das lyrische Ich erwacht geradezu aus einem wohl positiven „Bann“. Jetzt ist es das Diktat der Zeit und der industriellen Pünktlichkeit, das die Herrschaft übernimmt.
  • Dazu passt auch die Veränderung der Umgebung: „grell erglommen“ – statt dass sich der Abend in ein romantisches Zwielicht mit Mondenschein taucht.
Strophe 3

Verwandelt alles! Tausend Auto jagen,
Und keines hält. Zweideutige Auskunft nur
Im Ohr durchkeuch´ ich das Verkehrs-Gewirre.

  • Im ersten Terzett wird das dann näher ausgeführt.
  • Hervorgehoben wird die Verwandlung durch den Abend.
  • Jetzt wird der Verkehr auch intensiver wahrgenommen.
  • Dass „keines hält“, soll wohl die Vereinzelung und die Hilflosigkeit des lyrischen Ichs deutlich machen.
  • Fast schon an Kafka, der ja auch zum Expressionismus gehört, ist der Hinweis auf „Zweideutige Auskunft“.
  • Die dritte Zeile ist dann schon ziemlich „neologistisch“ gestimmt, wenn das lyrische Ich davon spricht, dass es das „Verkehrs-Gewirre“ im Ohr „durchkeucht“. Da passt einiges nicht zusammen, typisch für viele expressionistische Gedichte.
Strophe 4

Der Bahnhof?! Wo?! Gespenstisch stummt mein Fragen.
Die Straßen blitzen endlos, Schnur um Schnur,
Und alle führen, alle, in die Irre.

  • Am Ende zeigt sich das lyrische Ich orientierungslos, was möglicherweise über den Bahnhof hinausreicht.
  • Das „gespenstische“ „Verstummen“ macht dann zunehmende Unruhe deutlich, auch Resignation.
  • Das Schlussbild gehört den Straßen, die zwar alle geradlinig verlaufen, aber „in die Irre“ führen.
Aussagen / Intentionalität

Das Gedicht zeigt:

  1. Die Konfrontation eines Einzelnen mit einer Großstadt,
  2. die zunächst „behaglich“ auf touristische Weise verläuft,
  3. dann aber plötzlich dem Diktat der Zeit ausgesetzt wird
  4. zum Abend hin alles im grellen Licht eher negativ und bedrohlich empfindet
  5. und schließlich zunehmend in eine unsichere Situation gerät,
  6. in der das lyrische Ich schließlich aufgibt und nichts Sicheres mehr zu erkennen glaubt.
  7. Insgesamt betont das Gedicht vor allem den Kontrast zwischen der scheinbaren Sicht des Tages und dem Unheil der Nacht,
  8. was genau im Gegensatz zur Romantik steht. Von daher ergeben sich interessante Vergleichsmöglichkeiten.
Wichtige „rhetorische“ Mittel

Darunter verstehen wir alles, was die Wirkung der Aussagen des Gedichtes verstärkt.

  1. Strophe 1: „Riesenbahnhof“ = Übertreibung mit metaphorischer Anspielung auf echte Riesen.
    Soll die Größe der Umgebung deutlich machen, wie sie auf das Lyrische Ich wirkt, zunächst aufnehmend, dann irritierend, der eigene Zeitplan wird vergessen.
  2. Strophe 2: Metaphorik des Wassers und des Schwimmens = zeigt, wie das lyrische Ich gewissermaßen in der neuen Welt der Großstadt aufgeht, in sie eingeht.
  3. Rhetorische Frage: „Schon so spät?“ – verstärkt die Irritation, obwohl die Antwort eigentlich klar ist.
  4. „Bann“ als Bild für das Gefühl, das das lyrische Ich hat im Hinblick auf den Einfluss der Umgebung.
  5. Ausruf: „Herrgott, mein Zug!“ Das zeigt die Aufregung und erzeugt Spannung.
  6. „grell erglommen“: Licht als Symbol für die plötzliche, erschreckende Klarheit.
  7. „Verwandelt alles!: Übertreibung
  8. Bild des durchkeuchten Ohrs zur Veranschaulichung der Situation.
  9. Straßen als „Schnur“, die Endlosigkeit sichtbar machen soll.
  10. Wiederholung des Wortes „alle“ und Übertreibung, was „die Irre“ angeht. Das lyrische Ich ist eher in dem Zustand.

Übergreifende Mittel, die der Autor sich hat einfallen lassen:

  • Gegensatz von Riesen-Stadt und gewissermaßen zum Zwerg gewordenen Menschen
  • dann der brutale Gegensatz zwischen dem gemütlichen Mitschwinden und dem plötzliche Erwachen, was den Plan angeht. Das gehört auch Individuum, das jetzt das Paradies der bequemen Menge verlässt.

Vergleich dieses Gedichts mit Kafka, „Gib’s auf“

Interessant könnte es sein, das Gedicht von Werfel mit dieser kleinen Parabel von Kafka zu vergleichen;
https://textaussage.de/kafka-gibs-auf

Vergleich dieses Gedichtes mit Eichendorff, „Nachts“

Joseph von Eichendorff

Nachts

Ich wandre durch die stille Nacht,
Da schleicht der Mond so heimlich sacht
Oft aus der dunklen Wolkenhülle,
Und hin und her im Tal
Erwacht die Nachtigall,
Dann wieder alles grau und stille.

O wunderbarer Nachtgesang:
Von fern im Land der Ströme Gang,
Leis Schauern in den dunklen Bäumen –
Wirrst die Gedanken mir,
Mein irres Singen hier
Ist wie ein Rufen nur aus Träumen.

  • Hier geht es nur um die Nacht, die als eine „stille“ empfunden wird, in der Mond „heimlich sacht“ „schleicht“. Eine völlig andere Atmosphäre als bei Werfel.
  • Auch hier durchaus eine gewisse Verwirrung, aber keine, die mit irgendwelchen Verpflichtungen und Zielnöten verbunden ist.
  • Stattdessen ist es eben „ein Rufen nur aus Träumen“, d.h. es gehört zur Nacht und zeigt vielleicht Übergänge in eine andere Welt.
  • Hervorzuheben ist ein „wunderbarer Nachtgesang“, der auf ähnliche, wenn auch etwas andere Weise deutlich macht, dass die Nacht ein Ort der Poesie ist.

Vergleich dieses Gedichtes mit Eichendorff, „Nachtzauber“

Joseph von Eichendorff

Nachtzauber

Hörst du nicht die Quellen gehen
Zwischen Stein und Blumen weit
Nach den stillen Waldesseen,
Wo die Marmorbilder stehen
In der schönen Einsamkeit?
Von den Bergen sacht hernieder,
Weckend die uralten Lieder,
Steigt die wunderbare Nacht,
Und die Gründe glänzen wieder,
Wie dus oft im Traum gedacht.

Kennst die Blume du, entsprossen
In dem mondbeglänzten Grund?
Aus der Knospe, halb erschlossen,
Junge Glieder blühend sprossen,
Weiße Arme, roter Mund,
Und die Nachtigallen schlagen,
Und rings hebt es an zu klagen,
Ach, vor Liebe todeswund,
Von versunknen schönen Tagen –
Komm, o komm zum stillen Grund

  • Hier ist die Nacht mit dem gesamten Programm der Romantik verbunden, die in einer „schönen Einsamkeit“ stattfindet.
  • Auch hier gibt es die „uralten Lieder“ und ist es eben eine „wunderbare Nacht“, in der der Mensch anders fühlen kann als am Tage.
  • Die Nacht ist aber auch eine Zeit des Lebens, wenn auch auf  etwas andere Art. Man kann dabei durchaus „vor Liebe todeswund“ werden.
  • Das passiert, wenn man anfängt „zu klagen [,,,] Von versunknen schönen Tagen.“
  • Aber das nimmt man in Kauf – das lyrische Ich bleibt bei der Vorstellung von einem „stillen Grund“.

Insgesamt wird hier in beiden Gedichten deutlich, dass die Nacht in der Romantik eine Zeit der Stille, der Verwandlung in ein anderes Leben ist, in dem nicht mehr „Zahlen und Figuren“ und die Hektik des Tages bestimmend sind.

Wer noch mehr möchte …