Kritische Anmerkungen zum Gedicht „An die Welt“ von Andreas Gryphius (4255)

Anmerkungen zur Überschrift

An die Welt

  • Die Überschrift des Gedichtes macht deutlich, dass das lyrische Ich sich offensichtlich an die Welt wenden will.
  • Was damit genau gemeint ist, bleibt zunächst offen.
  • Mögliche Hypothese:
    • Wer sich ein bisschen mit der Barockzeit und ihrer Grundhaltung gegenüber der Welt auskennt, wird vielleicht schon mal annehmen, dass es hier um Kritik am Diesseits gehen könnte im Vergleich zu einem besseren Jenseits.
    • Solche Vorabhypothesen vor dem Hintergrund eigene Kenntnisse können hilfreich sein, man muss sie aber kritisch im Auge behalten. Denn es sind zunächst einmal nicht mehr als vorläufige Urteile, die am Text überprüft werden müssen.

Anmerkungen zu Strophe 1

  1. Mein oft bestürmtes Schiff, der grimmen Winde Spiel, 
  2. Der frechen Wellen Ball, das schier die Flut getrennet, 
  3. Das über Klipp auf Klipp und Schaum und Sand gerennet, 
  4. Kommt vor der Zeit an Port, den meine Seele will.
  • Das Gedicht beginnt mit der rückblickenden Beschreibung eines Schiffs, das durch einen Sturm, Klippen und Untiefen bedroht ist.
  • Hinzugefügt wird die Klärung der aktuellen Situation, dass es sich dem Hafen nähert und damit den inneren Wunsch des lyrischen Ichs erfüllt.
  • Weitere Hypothese:
    • Auch hier hat derjenige Vorteile, der Barocklyrik kennt, denn der Hinweis auf die Seele und den Hafen  lässt vermuten, dass es sich um das Lebensende handeln könnte.

Anmerkungen zu Strophe 2

  1. Oft, wenn uns schwarze Nacht im Mittag überfiel,
  2. Hat der geschwinde Blitz die Segel schier verbrennet.
  3. Wie oft hab ich den Wind und Nord und Sud verkennet!
  4. Wie schadhaft ist der Mast, Steuer, Ruder, Schwert und Kiel!
  • Die zweite Strophe verfolgt eine mögliche bildliche Übertragung der Schifffahrt auf das Leben nicht direkt weiter.
  • Stattdessen wird noch mal in mehreren Bildern verdeutlicht, welchen Gefahren das Schiff auf seiner Fahrt ausgesetzt gewesen ist.
  • Kritische Anmerkung:
    • Dies ist etwas schade, weil damit nicht genügend deutlich wird, was denn konkret das was Leben vergleichbar gemacht hat mit einer gefährlichen Seefahrt.

Anmerkungen zu Strophe 3

  1. Steig aus, du müder Geist! Steig aus! Wir sind am Lande.
  2. Was graut dir vor dem Port? Jetzt wirst du aller Bande
  3. Und Angst und herber Pein und schwerer Schmerzen los.
  • In der dritten Strophe spricht sich das lyrische Ich selbst an und ermuntert sich vor dem Hintergrund der eigenen Müdigkeit zum Aussteigen an Land.
  • Kritische Anmerkung:
    • Für das Bild der Seefahrt ist der Hinweis auf ein Grauen vor dem Hafen nicht recht nachvollziehbar.
    • Etwas mühsam klammern sich das lyrische Ich an vergangenen Leiden fest, statt die Bildebene zu verlassen und sich der Realität seiner Erlebnisse zu zu wenden.

Anmerkungen zu Strophe 4

  1. Ade, verfluchte Welt! Du See voll rauer Stürme!
  2. Glück zu, mein Vaterland! das stete Ruh im Schirme
  3. Und Schutz und Frieden hält, du ewig lichtes Schloss!
  • Überrascht wird der Leser dann durch die Heftigkeit der Beschimpfung der Welt, die sogar als „verflucht“ betrachtet wird.
  • Für einen Seemann nicht unbedingt nachvollziehbar wird das Land als Vaterland verstanden.
  • Auch wird darauf nur sehr allgemein eingegangen als Ort des Schutzes, des Friedens, des Lichtes und des Reichtums (Schloss).

Zusammenfassung

Insgesamt

  • ein Gedicht, das  offensichtlich von der typischen Zweiteilung im Weltverständnis des Barock ausgeht. Dem Diesseits mit seinen vielen Leiden und Gefahren steht ein schönes Jenseits gegenüber.
  • Auf dieses darf man sich angeblich freuen. Da ist es erstaunlich, dass dabei das Innere, also die Welt der Erfahrungen und Vorstellungen nicht so richtig mitmacht. Man hat den Eindruck, dass das lyrische Ich sich schon irgendwie ein bisschen zwingen muss in Richtung Vorfreude auf das Jenseits.
  • Insgesamt ergibt sich eine deutliche Schieflage beim Vergleich der immer wieder neu beschriebenen Nachteile dieser Welt und der Vorteile der jenseitigen Welt.
  • Die werden eigentlich nur rückblickend als schützende Gegenwelt beschrieben, die Zukunft im Jenseits wird nur minimal angedeutet mit Herrlichkeit und Reichtum.

Kritik und kreative Anregung

  • Das Gedicht kann kaum überzeugen, weil es weitgehend im Negativen verharrt.
  • Es nimmt keine Rücksicht auf all die Menschen, die das Leben positiver sehen. Und es macht sich selbst auch unglaubwürdig, wenn es im Angesicht des rettenden Hafen sich selbst ermahnen muss, sich darauf zu freuen.
  • Insgesamt sicherlich eines der am wenigsten überzeugenden Barock-Gedichte, was den Gegensatz zwischen Diesseits und Jenseits angeht.
  • Wieder mal ein Text, der durchaus auch vor dem Hintergrund einer christlichen Grundhaltung nach einem lebensbejahenden Gegengedicht regelrecht schreit.
  • Es ist nichts dagegen einzuwenden, sich auf ein noch schöneres und angesichts des versprochenen Fehlens von Fehlen von Krankheit und Not auch wohltuenderes Jenseits zu freuen. Aber menschlicher wäre es sicherlich, auch auf das aufmerksam zu machen, was bereits als diesseitige Vorstufe eines Jenseits betrachtet werden könnte.
  • Sonst könnte jemand auf den Gedanken kommen zu denken und vielleicht auch zu sagen, dass jemand, der ein so schlechtes Diesseits geschaffen hat, nicht der beste Garant ist für ein besseres Jenseits.

Weitere Anregung:

Unsere Kritik bezieht sich nur auf dieses Gedicht und das auch noch aus der Sicht eines heutigen Lesers – aber um den geht es ja im Deutschunterricht unserer Tage in erster Linie.

Wer mal schauen will, wie Gryphius denn in anderen Gedichten „so drauf war“, dem seien die folgenden Beispiele empfohlen:

 

Wer noch mehr möchte …