Heinrich Heine, „Ein neues Lied, ein besseres Lied“
Im folgenden stellen wir zunächst einmal die Strophen vor, in denen Heines Vorstellung von Diesseits und Jenseits deutlich wird. Da das „Wintermärchen“ in hohem Grade autobiografisch ist, verwenden wir hier nicht die Bezeichnung „lyrisches Ich“ für den Sprecher, sondern ordnen ihn Heine selbst zu.
Eine 5-Minuten-Kurzvorstellung dieses Gedichtes gibt es hier:
https://textaussage.de/5-min-tipp-heine-ein-neues-lied
(1)
Ein kleines Harfenmädchen sang.
Sie sang mit wahrem Gefühle
Und falscher Stimme, doch ward ich sehr
Gerühret von ihrem Spiele.
- Die erste Strophe geht aus vom Gesang eines kleinen Harfenmädchens, worauf sich drei Dinge ergeben:
- Zunächst einmal ist davon die Rede, dass sie mit „wahrem Gefühle“ singt, d.h. sie trägt das nicht irgendwie mehr oder weniger eingeübt vor, sondern ist wirklich mit dem Herzen dabei.
- Allerdings singt dieses Mädchen „mit falscher Stimme“. Das wird nicht näher erklärt. auf jeden Fall tut sie es nicht so, wie sich Heine das vorstellt.
- Aber insgesamt zeigt er sich doch „gerühret“, also angeregt beziehungsweise beeindruckt von dem, was er da hört.
(2)
Sie sang von Liebe und Liebesgram,
Aufopfrung und Wiederfinden
Dort oben, in jener besseren Welt,
Wo alle Leiden schwinden.
- In der zweiten Strophe geht es dann um den Inhalt des Liedes.
- Es geht um Liebe, vor allem aber um die manchmal traurigen Begleitumstände.
- Entscheidend ist aber letztlich, dass dieses Lied von einer besseren Welt im Jenseits ausgeht, wo alles sich in Harmonie auflöst.
(3)
Sie sang vom irdischen Jammertal,
Von Freuden, die bald zerronnen,
Vom Jenseits, wo die Seele schwelgt
Verklärt in ew’gen Wonnen.
- Die dritte Strophe arbeitet dann noch mal den Gegensatz heraus zwischen dem irdischen Jammertal und einem schönen Jenseits.
(4)
Sie sang das alte Entsagungslied,
Das Eiapopeia vom Himmel,
Womit man einlullt, wenn es greint,
Das Volk, den großen Lümmel.
- Diese Strophe macht dann deutlich, was Heine vor allem an dieser Vorstellung stört.
- Er glaubt nämlich, dass so ein Lied nur dazu dient, das Volk zu vertrösten, wenn es in dieser Welt nicht das bekommt, was es gerne haben möchte.
- Anmerkung: Man merkt hier eine deutliche Nähe zur Vorstellung von Karl Marx, der die Religion als Opium fürs Volk bezeichnet hat.
https://de.wikipedia.org/wiki/Opium_des_Volkes
(5)
Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.
- Diese Strophe macht deutlich, dass es hier nicht nur um eine Vorstellung geht, mit der Menschen sich zu allen Zeiten das Leben in dieser Welt erleichtert haben.
- Viel mehr geht Heine davon aus, dass diese Vorstellung vor allem die schützen soll, die heimlich Wein trinken, während sie dem Volk nur Wasser gönnen.
- Das verschärft natürlich die Kritik an der Religion.
—-
(6)
Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.
- Im nächsten Teil wird diesem alten Lied ein neues Lied gegenübergestellt, ein besseres Lied.
- Heine macht deutlich, dass er es dichten will, dass er also der alten Vorstellung eine neue entgegensetzen will.
- Er bringt sie dann auf einen ganz einfachen Punkt, nämlich den, dass das Himmelreich schon auf Erden, also im Diesseits errichtet werden soll.
(7)
Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.
- Diese Strophe betont noch einmal den Wunsch der Menschen, schon auf Erden glücklich zu sein.
- Im zweiten Teil wird auch angedeutet, wie es nach Meinung Heines zu so einer Fehlkonstruktion der Welt kommen kann. Sie entsteht dadurch, dass „der faule Bauch“, also eine Führungsschicht, die nichts tut, aber alles verschlingt, den Menschen das wegnimmt, was eigentlich ihnen zusteht.
(8)
Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.
- Behauptung, dass es auf der Erde genug Brot gibt für alle Menschen
- Das wird in einem zweiten Schritt noch erweitert in Richtung vieler schöner Dinge, die gewissermaßen als Sahne obendrauf kommen.
- Kritische Anmerkung:
- Wenn einem als Leser an einer Stelle etwas auffällt oder etwas dazu einfällt, dann kann man das durchaus auch bei der ersten Durchsicht des Textes schon festhalten. Allerdings sollte es dann nicht unbedingt bereits in die Analyse eingefügt werden, sondern man verwendet es später bei einer kritischen Zusammenfassung der Aussagen.
- Heines These, es sei genügend für alle da, ist zwar bedenkenswert, geht aber in dieser Allgemeingültigkeit und Kürze eindeutig zu weit.
- Zunächst einmal übersieht Heine Situationen, in denen die von ihm angenommene Fülle nicht gewährleistet war/ist.
- Es gab zumindest früher viele Gegenden in der Welt, in denen es zum Beispiel Naturkatastrophen oder Missernten gab. Man denke etwa an das Irland des 19. Jahrhunderts.
https://de.wikipedia.org/wiki/Große_Hungersnot_in_Irland
- Heute mag es angesichts des technischen Fortschritts im Bereich der Lebensmittelproduktion wirklich so sein und man kann allen Menschen nur wünschen, dass sie genug davon abbekommen. Im Einzelnen müsste dann geprüft werden, ob es im Mangelfall nur ein Problem der faulen Bäuche ist oder ob tatsächlich in einer Weltgegend die Lebensmittel nicht für die gesamte Bevölkerung ausreichen. Glücklicherweise kann man so etwas in Zeiten der Globalisierung ja weltweit ausgleichen.
- Es gibt doch das Phänomen der künstlichen Verknappung von Gütern. Das führt dann zu Preissteigerungen, die zu Lasten anderer von Einzelnen genutzt werden können. Heinrich Heine geht hier offensichtlich von einem Menschenbild aus, das den Eigennutz weitgehend ausblendet. Den gibt es nicht nur bei höheren Schichten.
- Ein ganz einfaches Beispiel dafür, dass nicht für jeden alles da ist, ist zum Beispiel der Streit um ein Parkplatz. Aber auch Arbeitsplätze in bestimmten Bereichen gibt es nicht so einfach für jeden, wie es bei Heines These im Prinzip angelegt ist.
- Anregungen zum Weiterdenken dieser Problematik gibt es zum Beispiel hier (in der Einleitung):
https://www.iz3w.org/zeitschrift/ausgaben/322_verteilungskaempfe
(9)
Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.
- In dieser Strophe bringt Heine seine Wunschvorstellung auf einen einfachen Punkt. Die Zuckererbsen stehen hier für diese Kombination aus Grundnahrungsmitteln und dem, was die Menschen sich obendrauf noch wünschen.
- Die zweite Zeile bedeutet, dass der ganze Reichtum der Natur direkt gerecht verteilt werden soll, sobald er zur Verfügung steht.
- Die zweite Hälfte der Strophe spielt mit dem Begriff des Himmels und reduziert die transzendente Vorstellung auf eine natürliche.
…
(10)
Und wachsen uns Flügel nach dem Tod,
So wollen wir euch besuchen
Dort oben, und wir, wir essen mit euch
Die seligsten Torten und Kuchen.
- Diese Strophe macht jetzt einen seltsamen Schritt zur Seite, indem sie durchspielt, was geschehen könnte, wenn es doch im Sinne der Religionen einen Himmel gibt.
- Heine machte es sich insofern leicht, als er dann diesen Genuss dort einfach zusätzlich haben möchte zu dem, den er auf der Welt für alle erschaffen will.
(11)
Ein neues Lied, ein besseres Lied!
Es klingt wie Flöten und Geigen!
Das Miserere ist vorbei,
Die Sterbeglocken schweigen.
- Diese Strophe greift noch mal den Gedanken des neuen Liedes rauf und verbindet es mit einer schöneren Vorstellung der Präsentation, als man es vom Grabgesang der Kirche und von Sterbeglocken her gewöhnt ist.
…
(12)
Die Jungfer Europa ist verlobt
Mit dem schönen Geniusse
Der Freiheit, sie liegen einander im Arm,
Sie schwelgen im ersten Kusse.
- Diese Strophe weitet dann den Blick von der persönlichen Wunschvorstellung hin zu einer Interpretation der aktuellen politischen Entwicklung.
- Heine sieht im Vorfeld der Revolution von 1848 die Möglichkeit, dass Europa und der Gedanke der Freiheit sich liebevoll vereinigen.
(13)
Und fehlt der Pfaffensegen dabei,
Die Ehe wird gültig nicht minder –
Es lebe Bräutigam und Braut,
Und ihre zukünftigen Kinder!
- Die letzte Strophe nimmt den Gedanken der Liebesverbindung auf und befreit sie von der Vorstellung, die Kirche müsste ihren Segen dazu geben.
- Heine wünscht sich, dass das neue und bessere Leben auch ohne die Zwänge einer Staatsreligion möglich wird.
Zusammenfassung
Insgesamt ein Gedicht, das die bestehenden Verhältnisse kritisiert.
Es geht davon aus, dass für alle Menschen sowohl im Bereich der Grundbedürfnisse als auch zusätzlicher Wünsche genügend vorhanden ist.
Der Reichtum der Natur und auch die Erträge menschlicher Arbeit werden nach Meinung Heines nur falsch verteilt.
Die Kirche spielt dabei eine seiner Meinung nach verhängnisvolle Rolle, weil sie die Sehnsüchte der Menschen ins Jenseits verlagert, statt sie in revolutionäre Energie zu verwandeln.
Angesichts der aktuellen Entwicklung in seiner Zeit sieht Heine gute Chancen, dass in unmittelbarer Zukunft eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse stattfindet.
Die Revolution von 1848 ist dann aber vor allem daran gescheitert, dass nach dem Anfangssieg des Volkes unter Beteiligung vieler Schichten, sich am Ende das Bürgertum doch lieber mit dem König verbunden hat. Hintergrund war die Angst, dass die Gleichberechtigung der Unterschicht zu einer Einschränkung der eigenen Vermögenssituation führen könnte/würde. Hier wird sehr gut deutlich, dass diejenigen, die selbst mehr haben oder mehr haben können, meistens nicht zu einem Vermögensausgleich nach unten bereit sind.
Vergleichsmöglichkeit
Man kann das neue Lied von Heine vergleichen mit einem Text von Kästner,
Erich Kästner ,“Das Märchen von der Vernunft“
Der Text ist zum Beispiel hier zu finden.
Wer noch mehr möchte …
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