Mascha Kaléko, „Deutschland, ein Kindermärchen“ oder die Frage: Wie fühlt man sich bei der Rückkehr aus der Emigration (Mat5637)

Worum es hier geht:

Mascha Kaléko gehört zu den deutschen Schriftstellerinnen, die angesichts des nationalsozialistischen Antisemitismus Deutschland verlassen mussten und das glücklicherweise noch rechtzeitig geschafft haben.

Das Gedicht „Ein Kindermärchen“ ist in mehrfacher Hinsicht interessant.

Zunächst einmal setzt sie sich in ihm mit der besonderen Situation auseinander, 10 Jahre nach dem Ende von Weltkrieg und Judenvernichtung Deutschland wiederzusehen.

Außerdem setzt sie diese Wiederbegegnung in einen Zusammenhang mit der Perspektive eines Dichters im 19. Jhdt. Der musste Deutschland ebenfalls verlassen, hatte aber noch die Gelegenheit hat, die Gegenwart seines ehemaligen Heimatlandes in einem langen Gedicht zu beschreiben.

Es geht um Heinrich Heine und sein Werk „Deutschland ein Wintermärchen“. Man bezeichnet es als „satirisches Versepos“, weil es sich langes, erzählendes Gedicht handelt, das satirisch-kritisch das betrachtet, was man auf einer Reise erlebt. In diesem Falle geht es um eine Reise, die Heine im Jahre 1843 von seinem Zufluchtsort Paris nach Hamburg führte.

Anmerkung zur Überschrift des Gedichtes:

Deutschland, ein Kindermärchen

  • Die Überschrift nimmt Bezug auf Heines Wiedersehens-Epos „Deutschland ein Wintermärchen“
  • Und verändert dann den zentralen Begriff entsprechend der besonderen eigenen Situation:
    Aus dem „Wintermärchen“ als aktuellem Eindruck Heines von Deutschland wird in diesem Falle ein „Kindermärchen“, weil einem ja die Möglichkeit genommen wurde, die eigene Einstellung zu diesem Land auf natürliche, menschliche Weise wachsen zu lassen.
  • Beschäftigen könnte man sich auch noch mit der Bemerkung unter der Überschrift, die einen konkreten historischen Bezugsraum aufmacht „Geschrieben auf einer Deutschland-Reise im Heine-Jahr 1956“.
    Hier könnte man Überlegungen anstellen, wie Deutschland sich etwa 10 Jahre nach dem Krieg präsentierte: Es war die Zeit des Wirtschaftswunders und des Versuchs, die Vergangenheit hinter zu lassen, statt sie zu bewältigen.

Anmerkung zu Strophe 1:

  • Das Gedicht beginnt, als hätte es sich für das lyrische Ich um einen normalen Auslandsaufenthalt gehandelt.
  • Auch dürfte es sich nicht um ein normales „Reisefieber“ gehandelt haben, sondern um eins, das mit vielen Fragen und einer gewissen Unruhe verbunden ist.
  • Am Ende wird der Zeitpunkt genannt, nämlich Silvester.
  • Leserlenkung: Der damit verbundene Jahreswechsel könnte auch auf einen Wechsel im Leben des lyrischen Ichs hindeuten. Es beginnt etwas Neues, von dem man nicht weiß, wie es genau aussehen wird.

Anmerkung zu Strophe 2:

  • Diese Vermutung wird bestätigt, wenn davon die Rede ist, dass die Freunde beim Abschied „besorgt und beklommen“ sind.
  • Deutlich wird dann aber auch eine gewisse Neugier, vielleicht auch Hoffnung, was manche mit einer solchen Reise verbinden.

Anmerkung zu Strophe 3:

  • Die Kühle, die in dieser Strophe angesprochen wird, passt sicher auch zu der Situation einer gewissen Beklemmung.
  • Interessant die Verbindung von Dollar und Gold im Hinblick auf die Sonne, die untergeht. Beides dürfte auch für die USA stehen, das Aufnahmeland, das Licht und Wärme bot im Vergleich zu dem eisigen Winterland Deutschland (wenn man hier den Bezug zu Heines Gedicht schon aufnehmen will).
  • Das Land steht aber auch für eine bestimmte Kultur, in der das Geld eine besondere Rolle spielt.
  • Es wird hier also möglicherweise ein Zwiespalt deutlich, den jemand empfindet, der aus dem Kulturkreis Deutschlands kommt und woanders die „Sonne“ suchen muss, die jedes Lebenwesen braucht.
  • Die letzten Zeilen machen deutlich, dass das, was „greifbar“ war, also die Lebensrealität der letzten 17 Jahre, jetzt entschwindet. Das verstärkt die Hinweise auf die besondere Übergangssituation, die auch mit dem Silvestertag verbunden ist.

Anmerkung zu Strophe 4:

  • Diese Strophe präsentiert nur die Situation des lyrischen Ichs zwischen Jugenderinnerung und dem, was unausgesprochen mitschwingt: Diktatur und Terror.
  • Deutlich wird, dass das lyrische Ich eher zu denen mit einem gewissen Bangen gegenüber dieser Reise gehört.
  • Am Ende dann ein praktischer Reise-Eindruck, der aber möglicherweise bedeutet, dass man die relative Sicherheit des Landes der Freien verlässt und in eine offene neue Situation hineinfährt.

Anmerkung zu Strophe 5:

  • Diese Strophe macht die besondere Situation dieses Fahrgastes deutlich,
  • der zwar die ganze äußere Munterkeit wahrnimmt,
  • aber keine Lust hat auf irgendwelche Festlichkeiten.
  • Am Ende wird noch mal das besondere Datum aufgenommen, auf das weiter oben schon eingegangen worden ist.

Anmerkung zu Strophe 6:

  • Die letzte Strophe wendet sich ins Positive:
  • Das neue Jahre hat rür das lyrische Ich eine große Bedeutung, was sicher mit dieser Reise zusammenhängt.
  • Das wird auch mit einem Wein genommen, der bezeichnenderweise aus einem Land kommt, das unter der deutschen Besatzung im II. Weltkrieg besonders gelitten hat.
  • Die Schlusszeilen gehören der historischen Situation, die vor allem im Rückblick betrachtet wird.
  • Mit das „tausendste Jahr“ wird Bezug genommen zum Ende des angeblich „Tausendjährigen Reiches“ der Nationalsozialisten.
  • Die letzte Zeile gehört dann dem Dichter, dem das lyrische Ich sich wohl sehr nahe fühlt.

Ausagen des Gedichtes:

Das Gedicht zeigt:

  1. Eine besondere Situation, in der nach 17 Jahren die Rückkehr in das Land möglich ist, aus dem man fliehen musste.
  2. Deutlich werden die gemischten Gefühle, die dabei aufkommen
  3. Und die auch zu einem distanzierten Verhalten an Bord des Schiffes führen.
  4. Ansatzweise gibt es auch eine Charakterisierung des Aufnahmelandes USA als Kombination von „Sonne“ und „Dollar“.
  5. Wenn von Deutschland als „meiner Jugend Land“ die Rede ist, macht das auch deutlich, dass es für das lyrische Ich vom jetzigen Deutschland noch kein klares Bild gibt.
  6. Am Ende wird deutlich, dass das lyrische Ich sich auf zweierlei Weise in seine besondere Situation einfinden kann: Zum einen mit französischem Wein, zum anderen mit einer besonderen Beziehung zum Dichter Heinrich Heine.

Thema des Gedichtes:

Das Gedicht behandelt die Frage, wie es jemandem geht, der nach Verfolgung und Emigration in seine alte Heimat zurückkehrt.

Weiterführende Überlegung

Wenn in einem Text eine Beziehung zu einem anderen hergestellt wird, spricht man von „Intertexualität“.
Näheres dazu ist hier zu finden:
https://textaussage.de/wvm-baustein-intertextualitaet

Weitere Infos, Tipps und Materialien