Oliver Tietze, „See in der Großstadt“ – Harmonie von Natur und Großstadt? (Mat3009)

Analyse des Titels und der Strophen

Schon der Titel des Gedichtes deutet die Spannung zwischen zwei Welten an. Denn normalerweiserweise gibt es in einer Großstadt keinen See oder er wird zumindest nicht so wahrgenommen wie in der freien Natur.

mp3-Vorstellung des Gedichtes

Auf der folgenden Seite kann man sich das Gedicht per Audio-Datei vorstellen lassen. Das hat den Vorteil, dass man hört und gleichzeitig lesen und markieren kann.

https://textaussage.de/mat3009mp3

Grafische Darstellung

Wer sich den Inhalt des Gedichtes gerne mal in einem Schaubild klarmachen möchte, findet es hier mit Erklärung:
https://textaussage.de/oliver-tietze-see-in-der-grossstadt-einfach-erklaert-an-einem-schaubild

Strophe 1

Die spielt dann in den ersten drei Zeilen der ersten Strophe die entscheidende Rolle. Die Zeilen sind geradezu mit Naturelementen überschwemmt. Da werden einem Blatt zunächst menschliche Verhaltensweisen beziehungsweise Einstellungen zugeschrieben (Personifikation), Wenn es heißt, dass es „tanzt“ und das auch noch „froh“ tut. Es folgt der Hinweis auf einen frischen Wind, der aber auch vermenschlicht wird, weil ihm ein Wille zugeschrieben wird.

In der zweiten Zeile wird aus dem Tanzen eine Abwärtsbewegung, zum einen beim Blatt vom Ahornstamm. Zum anderen wird auch dem noch ein Wille unterstellt, nämlich sich von der Richtung her dem Schiff zu zu wenden.

Bezeichnend ist, dass die dritte Zeile dann das Motiv der Abwärtsbewegung noch einmal aufnimmt, diesmal verbunden mit der Landung eines Kranichs.

Insgesamt also ein starker Einstieg, der Phänomene der Natur in eine enge Verbindung zum Menschen bringt beziehungsweise sie aus seiner Sicht präsentiert.

Die Wirkung der Natur scheint so groß zu sein, dass sogar ein typisches Element der Großstadt, nämlich ein Baukran, sich auf diese für Menschen typische Weise auf die Natur einstellt und lauscht. Das Adverb „im Stillen“ macht dann noch einmal deutlich, wie sehr hier die Natur Vorrang hat vor dem, was man normalerweise mit Großstädten verbindet. Hier wird geradezu ein Gegenprogramm entwickelt gegenüber dem, was man etwa mit New York verbindet: der Stadt, „die niemals schläft“.

Strophe 2

Zu Beginn der zweiten Strope hat man zumindest kurzzeitig eine Gegenbewegung, denn ein Fisch erhebt sich dort über die Fläche des Sees. Aber man weiß natürlich, dass daraus auch gleich eine Landung werden wird.

Ab der zweiten Zeile verändert sich das Verhältnis von Großstadt und Natur in Richtung Gleichgewicht. Allerdings wird dem Mobiltelefon und den Grillen dasselbe Verb zugeordnet, das eher zur Natur gehört.

Bei der dritten und vierten Zeile der zweiten Strophe weiß man nicht gleich, ob damit Kritik angedeutet werden soll – nach dem Motto: Die Welt der modernen Kommunikation macht vor keinem stillen Paradies Halt.

Von daher ist man gespannt auf die beiden Terzette  (Strophen mit nur drei Zeilen), die nach den beiden eher beschreibenden Quartetten häufig eine Schlussfolgerung präsentieren.

Strophe 3

Die dritte Strophe geht dann offensichtlich auf die Situation des lyrischen Ichs ein. Interessant ist die Abweichung von der normalen Formulierung: „bis zur Besinnungslosigkeit“. Hier soll also offensichtlich angedeutet werden, dass man an diesem See nicht nur Sonne bekommt, sondern auch zur Besinnung kommt.

Die Perspektive des lyrischen Ichs wendet sich dann einem schwarzen Schwan zu und einem Fischschwarm, bei dem man nicht weiß, ob er möglicherweise zu seinem Schutz „auseinanderspritzt“. Auf jeden Fall kommt hier zum ersten Mal Hektik in das Gedicht hinein.

Strophe 4

Das wird aber in der letzten Strophe nicht aufgenommen, sondern dort wird wieder eine sehr ruhige Langzeitperspektive präsentiert, was die Zukunft eines Baums angeht.

Erstaunlicherweise werden der Weide Geräusche zugeordnet, die wohl nicht von ihr selbst kommen. Es soll wohl angedeutet werden, dass dieser Baum mit seiner Rinde vielen kleinen Lebewesen Lebensraum gibt.

Das lyrische Ich empfindet das als Abschiedsgruß und stellt nur noch sachlich fest, dass sich sein Weg wohl gabelt. D.h. entweder, dass er sich dort entscheiden muss, oder aber, dass sein vorgegebenes Ziel von diesem See wegführt.

Gesamteindruck – Aussagen

Insgesamt ein Gedicht, das sehr persönliche Eindrücke präsentiert, die man in einer Großstadt an einem See bekommen kann, der viel Natur präsentiert und mit seiner Stille auch zumindest kurzzeitig eine Alternative zur sonst herrschenden Betriebsamkeit bietet.

Insgesamt begnügt dieses Gedicht sich mit Beschreibungen beziehungsweise Schilderungen, die zum einen Naturelemente intensiv wahrnehmen und Elemente der städtischen Welt in diese Welt des Sees integrieren. Nur an einer Stelle könnte man annehmen, dass das Nebeneinander von Technik und Natur zu einer Störung führen kann. Das Verständnis bleibt aber dem Leser überlassen.

Am Ende steht die möglicherweise bewundernd gemeinte Achtung vor der Größe der Natur und vielleicht auch ein bisschen Trauer, dass man sie jetzt verlassen muss.

Anregung

Man kann hier sehr gut die Frage diskutieren, ob die Erwähnung des Mobiltelefons Kritik andeutet oder Harmonie zwischen Großstadt und See.

Die Frage nach der Zäsur im Gedicht

In der letzten Zeit sind wir immer wieder gefragt worden, inwiefern in diesem Gedicht eine Zäsur vorliegt.

Deshalb hier nun unsere Antwort:

Was die Frage einer Zäsur angeht, so ist sie am ehesten zu Beginn der 3. Strophe zu finden. Das würde auch zum Grundaufbau eines Sonetts passen:
Näheres zum Sonett, seiner Form und deren Bedeutung ist hier zu finden:
https://textaussage.de/wvm-baustein-sonett

In diesem Sonett zeigt sich der Sonett-Charakter so:

In den beiden Vierzeilern (Quartette) Beschreibung der Realität, wie sie sich dem lyrischen Ich präsentiert.

Dann kommt in den beiden Dreizeilern (Terzette) eben die Betrachtung aus einer höheren Perspektive:

Das lyrische Ich geht nämlich auf einen besonderen Aspekt seiner Situation ein:

Es stellt sich nämlich vor, es würde „bis zur Besinnung“ sitzen …

Gemeint ist damit: Solange die Natur wahrnehmen, bis man sie begreift – zumindest ein einen entscheiden Aspekt, der sie bestimmt.

Der findet sich im letzten Quartett, wo es um die Dauerhaftigkeit der Natur geht und damit in gewisser Weise auch um so etwas wie Ehrwürdigkeit.

Das lyrische Ich verlässt also am Ende diesen Ort mit der Erkenntnis: Es gibt etwas Größeres und Wichtigeres als das Scheinnetz von „SMS-Postillen“, auch wenn das Mobilfon so tut, als wäre es den Grillen gleich.

Weiterführende Hinweise