Zur Problematik von allgemeinen Behauptungen (Mat5673)

Worum es hier geht:

Immer wieder liest man Texte, in denen sehr allgemein gehaltene Sätze auftauchen. Wenn man anfängt, sie genauer zu durchleuchten, also zu konkretisieren, werden sie mehr oder weniger fragwürdig.

Interessant auch in diesem Zusammenhang der Blog-Beitrag von Anders Tivag
http://textaussage.de/anders-tivag-blog-2-die-beschraenktheit-der-reinen-begriffe

Unser Ausgangspunkt: Immanuel Kant

Das gilt sogar für den berühmten Philosophen Kant. Wir haben das am Beispiel seiner wunderbaren Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung“ mal durchgecheckt:
https://textaussage.de/kant-was-ist-aufklaerung-was-nach-der-bekannten-einleitung-noch-kommt

Aktueller Fund: Dürrenmatt

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel sind aber die „21 Punkte zu den Physikern“ von Dürrenmatt. Er kommentiert in ihnen nachträglich sein entsprechendes Theaterstück.

Dort gibt es den wunderbaren Satz:

„Was alles angeht, können nur alle lösen.“
https://textaussage.de/anmerkungen-zu-duerrenmatt-21-punkte-zu-den-physikern

Dazu haben wir Folgendes festgestellt:

  • Das ist wieder so ein Satz, der wunderbar klingt, aber mit der Realität natürlich nichts zu tun hat.
  • Die Deutsche Rentenversicherung ist nicht von allen Deutschen geschaffen worden, sondern von Bismarck in einem ganz bestimmten historischen Kontext.
    • Hier ist zu Recht von einem Nutzer darauf hingewiesen worden, dass Bismarck diese Sozialversicherung natürlich nicht allein „geschaffen“ hat – man denke an das berühmte Brecht-Gedicht: „Fragen eines lesenden Arbeiters“
      https://textaussage.de/5-min-tipp-brecht-fragen-eines-lesenden-arbeiters
    • Deshalb ist es besser, sich der Problematik dieses Dürrenmatt-Satzes auf einem anderen Wege zu nähern:
      • Stellen wir uns eine Gruppe vor, die erst auf einer Wanderung in Gefahr und dann in Panik gerät.
      • Einer behält soviel Verstand, dass er auf eine Idee kommt, die die Gruppe dann rettet.
      • Oder aber einer war bei den Pfadfindern und weiß, wie man auch ohne Handy-Empfang oder Kompass die Himmelsrichtung erkennt.
      • Das Problem ging alle an, wurde aber nur von einem gelöst.
      • Ähnliches gilt für schwierige Fragen der Wissenschaft, die die meisten von „alle“ nicht einmal durchschauen, geschweige denn lösen können.
      • Nun könnte man sagen: Dann muss der Wissenschaftlicher das eben allen so erklären, dass sie es verstehen.
      • Was ist dann, wenn mächtige Interessenvertreter dafür sorgen, dass zu viele von „allen“ mit falschen oder schiefen Infos beschäftigt werden – oder man sie geschickt über Gefühlsmanipulation beeinflusst.
      • Das alles soll nur zeigen, wie – im besten Sinne des Wortes – diese These von Dürrenmatt „frag-würdig“ ist. Im Einzelfall muss sie deshalb ja noch nicht falsch sein.
  • Auch die Impfungen sind von Wissenschaftlern erfunden und dann von verantwortungsbewussten Medizinpolitikern und Ärzten an die Menschen herangetragen worden.
  • Das kann man sicherlich beliebig fortsetzen. Interessant ist auf jeden Fall, dass Dürrenmatt kein einziges Mal in seinen 21 Punkten die Vertretung aller Menschen in einem Staat erwähnt, nämlich die Volksvertretung.
  • Genauso könnte man Dürrenmatt darauf hinweisen, dass es zum Beispiel Firmenchefs, Behördenleiter u.ä. gibt. Warum wohl? Weil „alle“ eben in der Regel nicht alles lösen können, was „alle“ angeht.
  • Auch den Weg nach Westen konnten in der Regel nur Scouts zeigen. Ihre „Lösungen“ führten dann häufig zum Schaden der nordamerikanischen Indianer.

Weitere Idee: Sprichwörter

Das Schöne an Sprichwörtern ist, dass sie gewissermaßen gesammelte Erfahrungen kurz auf den Punkt bringen.

  1. Da heißt es:
    1. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
      Und dann kommt die Antwort:
    2. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.
  2. oder:
    1. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.
      Und die Antwort:
    2. Gut Ding will Weile haben
      (vereinfacht ausgedrückt: Wenn etwas gut werden soll, muss man sich Zeit nehmen).

Gerade bei den Sprichwörtern kann man zudem zeigen, dass es sich häufig um reine Werbe- oder soger Manipulationsmaßnahmen handeln kann.
Beispiel: Jemand möchte Leute dazu bringen, in recht problematische Objekte zu investieren (Immobilien, Aktien o.ä.) und wird „überzeugt“ mit dem Hinweis:
„Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“
Sobald man nur ein bisschen darüber nachdenkt, merkt man, dass das so allgemein nicht gilt.

Beispiel Song-Text

Durch Zufall sind wir auf einen Song-Text gestoßen, bei dem wahrscheinlich wunderbare Musik (wir können das nicht beurteilen, erkennen das aber gerne an 🙂 mit Behauptungen verbunden wird, die einer genaueren Betrachtung nur teilweise standhalten:

Der Song ist hier zu finden.

Wir greifen hier nur mal als Beispiel die dritte Strophe heraus:

1 „Glaub keinem der dir sagt, dass du nichts verändern kannst
2 Die, die das behaupten haben nur vor Veränderungen Angst
3 Es sind die Selben, die erklären es sei gut so, wie es ist
4 Und wenn du etwas ändern willst, dann bist du automatisch Terrorist.“

  • Zeile 1 ist sicher in Ordnung: Man soll nicht sofort etwas glauben, was ein anderer einem sagt.
  • Zeile 2 stellt aber eine Behauptung dar, die in vielen Fällen so nicht stimmt:
    • Konkretisierungsbeispiel:
      Man kommt in eine neue Firma und sieht dort Dinge, von denen man glaubt, sie einfach verändern zu können. Ein älterer Mitarbeiter weist einen daraufhin, dass man seiner Erfahrung nach an der Stelle nichts verändern kann, solange zum Beispiel der Senior-Chef noch das Sagen hat. Das hat dann überhaupt nichts mit der im Song genannten Angst vor Veränderungen zu tun. In den meisten Fällen behaupten Menschen nicht aus Angst vor Veränderungen, dass man sie nicht durchsetzen kann, sondern aus Erfahrung.
      Natürlich kann es sich auch um eine nicht genügend durchdachte Meinung handeln – aber Angst vor Veränderung ist wahrscheinlich nur ein kleiner Teil der Problematik.
  • Zeile 3 gilt dann auch nur sehr begrenzt.
  • Zeile 4 gilt in dieser verabsolutierenden Verallgemeinerung sicher nur in den wenigsten Fällen. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der etwas ändern will und nicht gleich zu Gewalt greift, ein Terrorist ist, dürfte gegen 0 gehen.
  • Zusammenfassung:
    • Dieser Song will offensichtlich vor allem Mut machen – das ist auch völlig in Ordnung und in vielen Fällen hilfreich.
    • Wichtig ist aber, dass alle Besucher des Konzerts oder Hörer des Songs das nicht so glauben, wie es gesungen wird oder da steht. Denn wenn sie ansonsten mit dieser Strophe in der Hand am nächsten Tag zu ihrem Chef gehen, werden sie damit wahrscheinlich in den meisten Fällen scheitern – der Chef wird sich sogar beleidigt fühlen – wenn man ihm nicht zutraut, dass seine Ablehnung von Veränderungen gute Gründe hat.

Noch ein Nachtrag: Denotation und Konnotation

Übrigens zeigt auch die Unterscheidung zwischen Denotation und Konnotation, dass es nicht reicht, einfach ein Wort zu benutzen oder einen Satz zu formulieren.

Denotation ist der feste Bedeutungskern eines Wortes. Friede ist die Abwesenheit von Krieg, d.h. es gibt keine Kämpfe zwischen Staaten.

Konnotation ist das, was der Einzelnen aufgrund seiner Erfahrungen und Einstellungen unter Krieg versteht. Da unterscheidet jemand zum Beispiel den heißen Krieg vom kalten Krieg u.ä. Da ist es gut, wenn jemand sich klar zu seinem Verständnis äußert. Andernfalls muss man es aus dem Kontext erschließen – oder eben auf Differenzierungsnotwendigkeiten verweisen.

Noch ein Nachtrag:

Wenn es um die Frage geht: Soll man in der Schule erst einen Roman lesen und sich dann die Verfilmung anschauen, gibt es neben vielen anderen Argumenten vor allem eins, das für die Reihenfolge: Roman – Film spricht. Das sind die Vorstellungen, die sich automatisch beim Lesen im Kopf bilden. Beim Film kann es dann heißen: Das habe ich mir aber ganz anders vorgestellt.

Für uns ist das hier interessant, weil die Bilder im Kopf natürlich dadurch entstehen, dass ein Roman nie ein komplettes Bild zeigen kann, wie es der Film dann tut. Das spricht auch dafür, dass Sprache nie Gedanken und Vorstellungen 1:1 übertragen kann. Ein Grund mehr, sich nicht mit einem einfachen Satz zu begnügen, sondern zumindest etwas genauer auszuführen, was man damit meint.

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