Uwe Gressmann, „Moderne Landschaft“

Viele Schülerinnen und Schüler leiden unter der Vorstellung, dass eine Interpretation eines Gedichtes letztlich etwas Beliebiges ist. Man muss nur das treffen, was andere für richtig halten.

Wir wollen  hier einen sicheren Weg zeigen, bei dem man jederzeit weiß:

  • ob man sich im Bereich der klaren Ergebnisse bewegt
  • oder im Bereich der Hypothesen
  • oder gar im Bereich der Beziehungen, die man selbst herstellen kann oder soll.

Im Folgenden soll gezeigt werden, wie man bei einem Gedicht verschiedene Ebenen unterscheidet und so zu einer möglichst sicheren und für andere nachvollziehbaren Interpretation kommt.

Die genaueren Vorüberlegungen dazu sind hier zu finden:
Mat3063 Interpretieren zwischen Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit

Wir haben das mal am Beispiel des Gedichtes „Moderne Landschaft“ von Uwe Gressmann ausprobiert:

„Moderne Landschaft“

  • Die Überschrift besagt, dass es sich um ein eher größeres Stück Gegend handelt, das modern ist.
  • Hier geht es schon los mit den Interpretationsspielraum, denn bei „modern“ gibt es bestimmt einen festen Kern der Bedeutung (Gemeint iste: „anders als in früheren Zeiten“).
  • Was aber im Einzelnen darunter verstanden werden kann, bleibt dem Leser überlassen. Das kann eine unnatürliche Betonlandschaft sein, es kann aber auch eine Gegend sein, in der überall künstliche Natur präsentiert wird.

„Stahlbäume wachsen auf den Bürgersteigen“

  • Die vordere Hälfte dieser Zeile besteht nur aus Kunstideen, zum einen die Metapher für Laternen (oder etwas ähnliches) als Stahlbäume, dann die Personifikation „wachsen“.
  • Der Rest ist dann eine klare Ortsbestimmung, die jeder nachvollziehen kann.
  • Eine gewisse Unklarheit ist allerdings beim „wachsen“ gegeben. Da kann man versuchen, das zu erklären. Die einfachste Erklärung ist wohl, dass man „wachsen“ hier gar nicht als „wachsen“ versteht, sondern als Hinweis auf die Existenz als Pflanze, die natürlich metaphorisch gemeint ist.

In den Zeilen 2 und 3  wird das Bild aus der Natur mit den Bäumen einfach fortgeführt und so werden dann eben Drähte in der Perspektive des lyrischen Ichs zu Zweigen.

„Darunter brüllen / Die elektrischen Tiere / Mit Menschen im Herzen vorüber.“

  • Auch hier eine weitere Fortführung der Grundidee, technische Elemente als Teile der Natur zu verstehen.
  • Geräusche, die wahrscheinlich von Fahrzeugen ausgehen, werden Tieren zugeschrieben.
  • Interessant ist das Attribut „elektrisch“, das sich möglicherweise auf entsprechende angetriebene Straßenbahnen bezieht.
  • Hierbei gibt es natürlich ein Problem, da man einen Elektromotor in der Regel im Vergleich zu einem Benzin oder Dieselmotor nicht oder kaum hört. Möglicherweise werden die Geräusche gar nicht durch den Antrieb erzeugt, sondern entstehen durch die Fahrt in den Gleisen.
  • Der Hinweis auf die Menschen im innern dieser elektrischen Tiere verstärkt natürlich die Vermutung, dass es sich um Fahrzeuge handelt. Die Formulierung „im Herzen“ ist natürlich eine starke Vermenschlichung. möglicherweise ist aber nur so viel gemeint wie „im Inneren“.

„Und so mancher gehet vorbei dort / Und findet nichts weiter dabei; / Denn die steinerne Landschaft / Ist ja auch seine Mutter.“

  • Die Schlussstrophe macht dann deutlich, dass im Unterschied zu dem lyrischen Ich im Gedicht es auch Menschen gibt, die all das ganz normal finden.
  • Interessant ist die Begründung am Ende: Sie macht deutlich, wie stark die Umwelt von Steinen geprägt ist. Das wundert einen zunächst etwas, denn es war ja bisher eher von Masten (wahrscheinlich aus Metall) und Drähten (auf jeden Fall aus Metall) die Rede. Offensichtlich soll hier nur angedeutet werden, welcher Gesamteindruck sich für den Betrachter ergibt.
  • Auf jeden Fall wird da deutlich aus der Sicht des lyrischen Ichs, wie sehr die Menschen seiner Zeit ein Produkt der Umgebung sind. Das Wort „Produkt“ mag hier gerechtfertigt sein, weil es sich wirklich um eine sehr unnatürliche Umgebung handelt.
  • Wenn es jetzt um die Frage geht, welche über das Gedicht hinausgehende Bedeutung man ihm zuschreiben kann, dann ist man im Bereich der 3. Ebene der Interpretation:
    • Zunächst einmal prüft man, inwieweit das Gedicht selbst bereits kritische Impulse enthält. Dabei darf man aber nicht die eigenen Auffassungen mit den Aussagen des Gedichtes verwechseln.
    • Anschließend überprüft man, welche Bedeutung das Gedicht haben könnte. Zum Beispiel könnte es zeigen, wie eine schlechte Umgebung von den Menschen akzeptiert wird, wenn sie nichts anderes kennen.
    • Genauso aber kann man dem Gedicht entnehmen, wie wichtig eine Heimat für Menschen ist – unabhängig von dem, was andere denken und meinen.

Weiterführende Hinweise