Zur Analyse der Erzähltechnik: Was ein Autor mit Blick auf die Praxis dazu sagt (Mat4464)

Worum es hier geht …

Das folgende Gespräch haben wir mit Lars Krüsand geführt. Er ist Lehrer und hat selbst einige Kurzgeschichten geschrieben, die er auch – natürlich unter diesem Pseudonym – im Unterricht kritisch besprechen lässt. Eine Liste seiner Texte gibt es weiter unten.

Frage 1: Wie sieht ein Autor, der auch Lehrer ist, das Thema „Erzähltechnik“?

  • TA: Herr Krüsand, Sie sind ja gleichzeitig Lehrer und haben auch selbst einige Kurzgeschichten geschrieben. Was sagen Sie ihren Schülern eigentlich, wenn es um die Erzähltechnik in einem epischen Text geht?
  • KR: Am meisten stören mich diese Listen, in denen ganz genau beschrieben wird, wie das mit dem Erzählen aussieht.
  • Da sind natürlich gute Ansätze drin. Natürlich gibt es dieses Phänomen, dass der Erzähler von einem erhöhten Standort aus etwas betrachtet und dann auch kommentiert. Und genau so kann es sein, dass der Autor sich beim Schreiben in eine Gestalt und ihre Situation versetzt und dann entsprechend schreibt.
  • Was ich für völligen Unsinn halte ist, dass ein Autor vor seinem Laptop oder iPad sitzt und sich überlegt, welche Erzählhaltung sollte ich wählen? Das ist wie bei den sogenannten sprachlichen Mitteln. Die werden von vom Autor nicht bewusst oder gar aus einer Liste ausgewählt, sondern sie ergeben sich einfach aus der Frage, wie kann man eine Situation am besten in einer Erzählung darstellen.

Frage 2: Was raten Sie denn nunSchülern und Schülerinnen?

  • KR: Verhaltet euch einfach klug. Man achtet natürlich darauf, was von einem verlangt wird, und versucht, die entsprechenden Punkte zu erreichen.
  • Ansonsten sollte man jede Gelegenheit nutzen, so etwas wie Erzähltechnik selbst auszuprobieren. Dabei wird man sicher auch von verständnisvollen Lehrern unterstützt.
  • Leider gibt es nur ganz wenige Lehrerinnen und Lehrer, die selbst mal etwas schreiben. Das ist schade, denn dabei macht man Erfahrungen, die normalerweise nicht im Lehrbuch stehen.
  • Zum Beispiel wird viel zu wenig berücksichtigt, dass mit dem ersten Satz bei einer Erzählung schon ganz viel festgelegt wird. Man muss sich das so vorstellen, dass ein Autor eine Idee im Kopf hat, die dann in diesem ersten Satz bereits zu leben beginnt.
  • Wenn es gut läuft, schreibt er im selben Stil weiter. Oder aber er fängt an darüber nachzudenken, wie es weitergehen könnte.
  • Da sind Autoren sehr unterschiedlich. Ich bin eher der Flow-Typ: Wenn es gut läuft, dann ist das wie eine Wasserader im Felsen. Wenn man die rausklopft, dann fließt es einfach. Man kann höchstens noch darüber nachdenken, wohin man dieses Wasser lenkt. So geht es eigentlich auch dem Autor.
  • Vor allem ist die sprachliche und eben auch erzählerische Melodie wichtig, die sich mit dem ersten Satz eigentlich schon ergeben hat. Man versucht dann nur noch, auf dieser Linie zu bleiben und im erzählerischen Fortschritt dann gegebenfalls auch abzuwandeln.

Frage 3: Soll man sich denn dann ganz von diesen Checklisten lösen?

  • KR: Nein, da steckt ja viel Know-how drin. Es lohnt sich auch, wichtige Begriffe kennen zu lernen.
  • Aber man sollte sich nicht allzu lange dabei aufhalten, sondern immer schauen, was kann man davon zum Verständnis eines gegebenen erzählenden Textes nutzen.
  • Außerdem kann man natürlich diese Listen auch als eine Art Suchprogramm verwenden. Ich hatte mir zum Beispiel relativ wenig Gedanken gemacht zu Fragen des Raums. Da lohnt es sich schon, sich einfach die Frage zu stellen: Spielt der Raum in dieser Geschichte eine besondere Rolle.
  • Auf jeden Fall sollte man nicht in die Situation kommen, dass man zwanghaft glaubt jeder dieser Punkte in einer Liste müsste abgearbeitet werden. Deshalb ist es so wichtig, von dem realen Text auszugehen und die Listen nur als Hilfsmittel zu verwenden.

Frage 4: Was könnte man denn im Deutschunterricht anders machen?

  • KR: Wichtig sind zwei Dinge:
    • Zum einen sollte man sich darüber verständigen, wozu der Deutsch-Unterricht eigentlich gut ist. Natürlich geht es darum, dass man bestimmte Dinge kennenlernt, etwa zum Beispiel die Besonderheit einer Ballade oder einer Kurzgeschichte. Das kann auch Spaß machen, zu schauen, wie sehr eine Geschichte die Kriterien erfüllt und wo sie abweicht. Das kann helfen, sie besser zu verstehen.
    • Vor allem aber sollte man den Satz ernst nehmen: Kunst entsteht im Auge des Betrachters. Das bedeutet, dass man auf keinen Fall fragt, was der Autor einem mit einem erzählten Text sagen will. Das kommt bei guten Autoren selten vor, dass sie einem etwas sagen wollen. Das ist höchstens bei der Parabel so. Denn die hat ja gerade die Funktion, an einer Beispielhandlung etwas zu verdeutlichen.
  • Ansonsten geht es darum, möglichst genau zu lesen. Und darum ist es gut, wenn im Deutschunterricht viel gestritten wird, wie eine Textstelle zu verstehen ist. Denn das führt automatisch dazu, dass die Kontrahenten im im Text nach Belegen für ihre Position suchen müssen.
  • Das ist übrigens eine gute Nachricht für alle, die sich fragen: Was ist, wenn in einer Klausur meine Sicht von der der Lehrkraft bzw. der Vorgaben abweicht. Da sage ich nur: Nicht gleich verzweifeln – sondern genau prüfen. Ich habe in meinem Leben genügend scheinbar offizielle Einschätzungen vorgefunden, die entweder gar nicht stimmten – oder die man auch abwandeln konnte.
  • Ansonsten sollte man viel häufiger Texte, die sich dafür eignen, auch kritisieren. Und wenn man dann etwas gefunden hat, was einem gar nicht gefällt, dann liegt auch der nächste Schritt auf der Hand: Man versucht, den Text entsprechend zu verändern. Wenn man sich dann bemüht, das im Tonfall der Erzählung zu tun, ist man automatisch schon bei Fragen der Erzähltechnik, die man ganz offen diskutieren sollte. Dazu können die berühmten Checklisten aus den Schulbüchern eine Hilfe sein. Viel wichtiger ist, dass man gewissermaßen mit dem Text in ein verständnisvolles Gespräch kommt.

Schluss: Danke für das Gespräch

  • Ich bedanke mich auch – denn das größte Geheimnis ist eigentlich, dass man selbst klüger wird, wenn man gefragt wird. Jedes Gespräch kann einen weiterbringen.
  • In dem Sinne wünsche ich euch viele gute Gespräche mit euren Lehrkräften über gute Texte. Und das sind vor allem die, über die man unterschiedlicher Meinung sein kann.

Liste von Kurzgeschichten von Lars Krüsand

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