Wilhelm Brandes, „Paddy Fingal“ – Ballade um einen Antihelden (Mat4508)

Was macht ein „Held“, wenn es mal richtig ernst wird?

Im Folgenden stellen wir eine Ballade vor, in dem es um einen scheinbaren Helden geht, der im entscheidenden Moment vor allem im Sinn hat, sich in Sicherheit zu bringen. Das geschieht auf ziemlich peinliche Weise, funktioniert aber, weil eine kluge Frau die rettende Idee hat.

Man kann – ausgehend von dieser Ballade – sehr gut diskutieren, was zum einen wirkliche Helden sind und wie sie sich verhalten können, wenn es mal schlecht für sie aussieht.

Die Ballade ist von Wilhelm Brandes und trägt die Überschrift „Paddy Fingal“. Sie ist u.a. hier zu finden.

Anmerkungen zu Strophe 1

(1) Paddy Fingal war von Riesenart:

Sechs Ellen flog sein schwarzer Bart,

seine Fäuste waren wie Tonnen groß,

einen Mastbaum führt‘ er als Wurfgeschoss,

so ein Kerl war Paddy Fingal!

  • In der ersten Strophe wird ein großer Mann beschrieben,
  • bei dem vor allem seine Stärke betont wird.

Anmerkungen zu Strophe 2

(2) Nun wuchs ein Hüne im Schottenland,

der hörte von Fingals starker Hand;

da wollt er erproben alsogleich,

wer fester sei auf Stoß‘ und Streich,

er oder Paddy Fingal.

  • Die zweite Strophe verweist dann auf eine Konkurrenz, die für diesen Mann heran wächst.
  • Es wird dann schnell deutlich, dass diese Ballade eine Zeit beschreibt, in der Männer sehr auf ihren Ruf bedacht sind und vor allem ihre stärke im Vergleich zu anderen erproben wollen.

Anmerkungen zu Strophe 3

(3) Und als er stapfte durch den Sund,

Paddy Fingal just am Ufer stund

und maß von ferne klipp und klar,

dass der Fremdling zehn Schuh größer war,

noch größer als Paddy Fingal.

  • Es kommt dann nicht gleich zur direkten Konfrontation,
  • weil Paddy Fingal, der zunächst genannte Held seinen Gegner rechtzeitig sieht und
  • dabei feststellen muss, dass der um einiges größer ist als er selbst.

Anmerkungen zu Strophe 4

(4) Da lief er heim in jähem Schreck:

„O Schaya, birg mich im Versteck!

Von Schottland kommt ein Kerl daher,

wie ein Berg so groß – ich fürchte sehr,

der sucht den Paddy Fingal.“

  • Die vierte Strophe präsentiert dann ein Verhalten,
  • das im völligen Widerspruch zum Verhalten eines Helden in früheren Zeiten steht.
  • Paddy Fingal wendet sich nämlich völlig verängstigt an seine Frau,
  • berichtet der von der herankommenden Gefahr
  • und spricht offen über seine Furcht.

Anmerkungen zu Strophe 5

(5) Ins Bette Paddy Fingal kroch,

Frau Schaya türmte die Kissen hoch;

wie aus dem Hedesack die Maus,

so guckte die Nase nur heraus,

die Nase von Paddy Fingal.

  • Jetzt tritt der schlimmstmögliche Fall für einen Helden ein.
  • Denn er stirbt nicht etwa im Bett, was für solche Leute als unschöne Todesart galt, sie wollten am liebsten im Kampf sterben,
  • sondern er versteckt sich sogar darin und seine Frau unterstützt ihn dabei auf bestmögliche Weise, damit er möglichst nicht gesehen wird.
  • Der Schluss der Strophe irritiert den Leser zunächst etwas, denn die Nase dieses scheinbaren helden schaut noch aus dem Versteck heraus.

Anmerkungen zu Strophe 6

(6) Indem so schob der Schotte herein,

an den Balken rührte sein Scheitelbein,

und er schnob und wischte sich den Schweiß

und rollte die Augen wild im Kreis:

„Wo steckt der Paddy Fingal?“

  • Die sechste Strophe steuert dann auf den Show-down hinaus, also eine mögliche direkte Konfrontation der beiden Männer.
  • Hervorgehoben werden noch einmal die Größe und das furchterregende Aussehen beziehungsweise Verhalten des Fremden.

Anmerkungen zu Strophe 7

(7) „Tut leise, Fremder, und tretet sacht,

dass Paddys Kindlein nicht erwacht!

Denn wenn er schrie und Fingal käm,

für euch kein gutes End es nähm:

Nicht spaßen tut Paddy Fingal.“

  • Diese Strophe bringt dann eine überraschende Wendung.
  • Denn Paddy Fingals Frau hat die gute Idee, ihren nur an der Nase sichtbaren Mann als dessen Kind zu verkaufen.
  • Sie warnt den Fremden, nicht laut zu sein, und droht mit dem dann erscheinenden Vater.

Anmerkungen zu Strophe 8

(8) Doch wie sie warnte mit Wort und Wink,

der Schotte neugierig ans Lager ging:

O heiliger Patrick, wie ward ihm da,

als er die Nase ragen sah,

die Nase von Paddy Fingal!

  • Diese Strophe präsentiert dann den Erfolg des Tricks.
  • Denn der Fremde bekommt Angst, als er sieht, wie groß die Nase schon des angeblich jungen Fingal ist.

Anmerkungen zu Strophe 9

(9) „Beim Pfeifer, der vor Moses blies:

welch heidenhafter Nasenspieß!

Ist das ein Baby, wie Ihr sagt,

ein Narr, wer’s mit ihm selber wagt!

Nicht wart ich auf Paddy Fingal.“

  • In dieser Strophe drückt der Fremde dann seine Angst aus.
  • Er bezieht sich dabei in einer Art Fluch auf eine Geschichte aus dem Alten Testament, in der ein Pfeifer, also jemand, der über Pfeifzeichen die Anweisungen des Anführers an eine Menschenmenge weitergibt.
  • Und macht deutlich, dass nur ein dummer Mensch bei einem solch großen Kind sich an den Vater wagt.

Anmerkungen zu Strophe 10

(10) Und er trollte davon mit scheuem Blick

und stolperte durch den Sund zurück;

fast wär ertrunken der gute Held,

dieweil in der Eil er die Furt verfehlt,

so lief er vor Paddy Fingal.

  • Diese Strophe macht sich dann noch zusätzlich lustig über den Fremden,
  • indem nicht nur noch einmal auf seine Angst verwiesen wird,
  • sondern auch noch auf seine Verwirrung, die fast dazu führt, dass er im Meer trinkt.

Anmerkungen zu Strophe 11

(11) Der aber erhob ein Siegesgeschrei.

Da kamen die Nachbarn rings herbei;

die staunten den großen Fingal an,

der den langen Schotten gejagt von dann,

den tapfern Paddy Fingal.

  • Die letzte Strophe präsentiert das Siegesgeschrei des angeblichen Helden
  • Und das noch größere Ansehen, das er durch die angebliche Vertreibung des starken Fremden bei seinen Nachbarn erworben hat.

Insgesamt zeigt die Ballade …

  1. zum einen die Mentalität, also das Denken und Fühlen von Männern in früheren Zeiten,
  2. ihre rein körperliche Stärke bedeutet zugleich ein hohes Ansehen und das wird immer wieder in Vergleichskämpfen erprobt.
  3. Offen bleibt, ob es sich hier einfach um Positionskämpfe handelt wie in einem Wolfsrudel – oder ob es hier gegebenenfalls auch um Leben und Tod gegangen wäre. Die Angst bei der Männer deutet das jedenfalls an.
  4. Die eigentliche Heldin der Ballade ist natürlich die Frau, die ihren Mann nicht nur beim Versuch, sich zu verstecken, unterstützt, sondern auch noch ein Problem, nämlich ein noch sichtbares und damit verräterisches Körperteil, auf geschickte Art und Weise zum Mittel des Sieges macht.

 

Tipps zum kritischen und kreativen Umgang mit der Ballade

  • Insgesamt hat die Ballade natürlich satirische Züge. Die werden vor allem sichtbar in der übertreibenden Herausstellung des Gegensatzes zwischen angenommenem Heldentum und real geradezu kindlichem Verhalten. Das dürfte heute für klüger gehalten werden und damit auch Verständnis stoßen. In den Zeiten, um die es hier geht, bedeutete es den Verlust der männlichen Ehre und der Absturz in die Schande.
  • Damit ergibt sich auch eine gute Möglichkeit zum kritischen Umgang mit dieser Ballade um einen angeblichen Helden.
  • Zum Beispiel könnte das Heimatdorf des Fremden bei passender Gelegenheit Fingal und seine Gemeinschaft erneut kämpferisch herausfordern. Beim Zusammentreffen der Gegner verhält sich Fingal dann ähnlich ängstlich wie in der Ballade oder sein Gegner wird misstrauisch und fordert den viel Kleineren zu einem Kampf vor aller Augen auf.

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