Anders Tivag, „Intelligenz Spaß und Goethes Erlkönig“ (Mat5796)

Anders Tivag,

Intelligenz, Spaß und Goethes „Erlkönig“

Gestern war es mal wieder so weit. Ich traf meinen Neffen – der kam gerade von der Schule. Er war ziemlich verzweifelt. Sie hatten in der Schule Goethes Ballade „Der Erlkönig“ besprochen – und jetzt sollten sie in der Hausaufgabe beschreiben, was daran auffällt.

Nun muss man wissen, dass Jonas ein sehr fleißiger Schüler ist, der solche Aufnahme ernst nimmt. Er hatte extra einen Bus vorbeifahren lassen, um in aller Ruhe in der Haltestelle die Ballade noch mal lesen zu können. Wieder und wieder. Da reichte es mir. Die Sonne schien, der Himmel wunderbar blau – und dann unnötig lange in einer Bushaltestelle. Das ging gar nicht.

Ich kannte den Text natürlich, aber ich wollte doch noch mal schauen, ob es da nicht einen Ansatzpunkt gab, den Jonas übersehen hatte. Wahrscheinlich hatte er nach „sprachlichen Mitteln“ gesucht, einer der Lieblingsaktivitäten im Deutschunterricht.

Dann hatte ich es.

Es war kein sprachliches Mittel, aber Goethe hatte doch eine kleine Fehlerstelle eingebaut, an der man diese Ballade und vor allem den Vater packen konnte.

Ich dachte, mach es mal wie Sokrates – der hatte ja diese Hebammenkunst erfunden. Eine Erkenntnis ist wie ein Kind, das zur Welt kommt. Man kann als Arzt oder Hebamme dabei helfen, aber rauskriegen muss die Mutter es – wovor wir als Mann alle Achtung dieser Welt haben.

Aber zurück zu Jonas und Goethe.
„Ich glaub, ich hab’s. Was macht der Vater die ganze Zeit, während der Junge seine Angst rausstöhnt?“

Die Antwort ging schon mal in die richtige Richtung:
„Er versucht, den Jungen zu beruhigen.“

Jetzt kam es drauf an, an der Stelle weiterzumachen:
„Und wie macht er das?“

Es dauerte ein bisschen, während Jonas den Text noch mal überflog.
„Er versucht ihn zu beruhigen.“

Das war erst die halbe Wahrheit, also musste man nachlegen:
„Und wie macht er das?“

Jetzt kam die Antwort schneller:
„Er sagt ihm immer wieder, dass das ganz natürliche Dinge sind, die er sieht.“

Jetzt hatte ich ihn kurz vor der Ziellinie:
„Und wie verhält sich der Vater am Schluss?“

Jonas überlegte kurz und las dann vor:
„er reitet geschwind.“

Jetzt brauchte man nur noch fragen:
„Warum?“

Dann zunächst die Antwort:
ihm „grauset’s“

Man merkt richtig, dass diese alte Formulierung noch nicht so richtig ankam.
Also eine letzte Hebammenhilfe:
„Und was heißt das, dass ihn ein Grausen packt?“

Jonas zögerte, schaute mich fragen an und meinte:
„Dass er Angst hat?“

Jetzt musste man nur noch das Personalpronomen wegbekommen:
„Wer hat Angst?“

Jonas meinte leicht wegwerfend, war ja auch einfach:
„Na klar, der Vater!“

Es ging doch nicht so leicht, wie ich gedacht hatte, also nachlegen:
„Du hast eben noch gesagt, der Vater sieht nur normale, ungefährliche Dinge der Natur.“

An der Stelle entschied es sich. Ich hatte schon die Nachschussfrage im Kopf: „Wie kann er dann Angst haben?“
Aber Jonas zeigte sich intelligent:
„Der Vater glaubt entweder auch an den Erlkönig – oder er lässt sich von der Angst des Kindes anstecken.“

Jetzt war Kreativität angesagt:
„Was hätte der Vater denn anderes tun können, wenn er wirklich an Weiden, also an Bäume glaubt und nicht an Erlkönigs Tochter?“

Jonas meinte vorsichtig, immer noch ein bisschen fragend:
„Er hätte anhalten und hingehen können.“

Jetzt reichte es mir endgültig – der Behelfsschriftsteller kam in mir durch:
„Pass auf, nimm dein Heft und schreib …“

Er tat es wirklich – und so konnte die Ballade ein besseres Ende finden. Immerhin konnten wir so ein Kind retten.

In seinem Heft stand:

„Wenn der Vater nicht an den Erlkönig und seine Töchter glaubt, warum hält er nicht einfach an, hüllt den Jungen in die Pferdedecke, damit der sich sicher fühlt, nimmt die Reitpeitsche mit, geht auf die Weiden zu und schlägt so lange auf die ein, bis der sein Sohn langsam die Decke fallen lässt und aufatmend sagt: „Die schreien ja gar nicht.“

Tja, Einstein soll ja gesagt haben: „Kreativität ist Intelligenz, die Spaß hat.“ Ich hatte jedenfalls in dem Moment ganz viel davon.

Kreativer Nachtrag:

Die Sache ging mir länger nicht aus dem Kopf – und so entstand auch noch ganz real eine fiktive Rettungs-Schluss-Strophe:

Noch von Goethe:

  • Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
  • Erlkönigs Töchter am düstern Ort?«
  • »Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau:
  • Es scheinen die alten Weiden so grau.«

Dann mein Schluss:

  • Es reicht jetzt dem Vater.
  • Er dreht einfach um
  • Ein Schlag mit der Peitsche
  • Die Weide bleibt stumm.

Natürlich in einem anderen, viel fröhlicheren Rhythmus.

 

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