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Anders Tivag, „Von armen Dichtern, die nichts von ihrer Epoche wissen“ (Mat5458)

Anders Tivag

Von armen Dichtern, die nichts von ihrer Epoche wissen

Im April 2023 ist es wieder passiert.

Ein Schüler sitzt im Abitur über dem Gedicht „Nacht“ von Ludwig Tieck und ordnet es der Klassik zu. Nach der Klausur hört er, dass die meisten anderen es der Romantik zugeordnet haben.

Jetzt hat er ein Problem. Man macht ja nur einmal Abitur – und er will vielleicht Arzt werden – und da können einige fehlende Punkte dazu führen, dass man später zu lange oder vergeblich auf einen guten Doktor wartet.

Nun ja, wir wollen das mit diesem Gedicht hier gar nicht klären.

Der Fall hat uns nur wieder dazu gebracht, über das Verhältnis von Dichter und Epoche nachzudenken.

Anscheinend erfahren viele Schülis in der Schule gar nicht, dass die Epochen für Schriftsteller überhaupt keine Bedeutung haben. Sie leben zwar in einer, die von den Jahreszahlen her passt. Aber das alles hat die Wissenschaft viel später erst festgestellt. Eigentlich erkennt man eine Epoche erst, wenn sie vorbei ist. Sonst könnte man ja auch die Endjahreszahl gar nicht festlegen 😉

Halten wir also fest: Ein Schriftsteller lebt in einer Epoche, von der er gar nichts weiß. Denn es gibt sie ja noch gar nicht. Vielleicht real, weil viele Schriftsteller ihre Werke verfassen wie Leute, die sich nach der aktuellen Mode kleiden. Sie tun es einfach, weil es ihnen gefällt. Vor ihnen liegt keine Liste, die erst später für den Deutschunterricht erstellt wird. Eine lustige Vorstellung, dass ein Autor da vor seinem Computer hockt. Er hat eine wunderbare Idee im Kopf – und die Finger gleiten nur so über die Tasten. Zwischendurch hält er immer an, sucht den Checklistenzettel und denkt dann: Habe ich auch wirklich an dies gedacht und an das?

In der Wirklichkeit ist das ganz anders. Wir wechseln mal zu anderen Checklisten des Deutschunterrichts. Da schreibt ein Autor Kurzgeschichten – und jetzt ist da eine, die wird immer länger. Soll er sie dann aus dem geplanten Kurzgeschichtenband rausnehmen, obwohl die Story einfach großartig ist. Allerdings ist das Ende nicht offen genug – und aus lauter Freude an der Ausgangssituation hat er sie ein bisschen ausführlicher dargestellt. Natürlich lässt er die Geschichte so, wie sie für ihn sein muss – und alle Deutsch-Checklisten können ihn gern haben.

Tja, eigentlich wollten wir ja bei den Epochen bleiben – dann kehren wir doch wenigstens zu ihnen zurück.

Wir hatten festgestellt, dass die Dichter nichts von der Epoche wissen, in der sie schreiben – aber sie schreiben halt so, wie es in diese Zeit passt und wie viele andere es auch machen. Manche schreiben auch einfach nur deshalb so, weil sie nicht wollen, dass ihre Schriftstellerkollegen und -kolleginnen die Nase rümpfen.

Manche sind aber auch tapfer, richtig eigenwillig und schreiben so wie unser Kurzgeschichtenautor – einfach so, wie die Geschichte oder das Gedicht es verlangen.

Und dann passiert noch etwas Seltsames: Sie schauen raus – und stellen fest, dass Leute sich durchaus unterschiedlich kleiden. Die einen noch so, wie bisher. Andere probieren aber auch schon Neues aus, was sie irgendwo staunend gesehen haben und was ihnen gefällt. Jetzt könnten wir den Autor beruhigen, dass er durchaus mal ein bisschen altmodisch schreiben kann – und dann auch mal was Neues ausprobieren. Vielleicht schreibt ein Autor des 21. Jahrhunderts auch einfach mal im Stil der Romantik um 1800 – einfach, weil er das schön findet und es zu dem passt, was er ausdrücken will.

Ab jetzt also kein Schrecken mehr, wenn ein Gedicht wie das von Tieck im Steil der Romantik anfängt und am Ende auch vom Klassiker Goethe stammen könnte.

Vielleicht hat die eine oder andere Lehrkraft des Faches Deutsch jetzt auch mal Lust, ein Gedicht im Stil der Barockzeit oder des Expressionismus zu schreiben 😉

Wir würden uns jedenfalls freuen, wenn so was in einem Kommentar hierzu auftaucht !!!

Wer mehr von Anders Tivag lesen möchte, findet hier eine Übersicht.

 

Anders Tivag, „Vom Eigenleben der Geschichten“ (Mat5463)

Anders Tivag

Vom Eigenleben der Geschichten

Ich habe große Achtung vor Handwerkern. Sie können etwas – und wenn ich ein Problem im Haus habe, kommen sie vorbei und können bald etwas sagen, was sich klug anhört. Manchmal kratzen sie sich aber auch erst am Kopf. Die Standardlösungen scheinen nicht zu passen – aber dann: Das Gesicht hellt sich auf – sie haben eine Idee – dann wird alles gut.

Es gibt auch solche Schriftsteller: Sie sehen ein Problem – und haben entweder gleich eine fertige Lösung oder denken sich eine passende aus. Aber irgendwie gefällt mir daran etwas nicht: Zum einen finde ich es schade, wenn z.B. ein literarischer Text nur die Funktion hat, eine vorher schon fertige Aussage zu illustrieren. Aber das ist natürlich völlig legitim – man denke nur an die Parabeln. Unvorstellbar, dass sich bei dem Propheten Nathan seine Geschichte mit dem Schaf anders entwickelt hätte als geplant. Er wollte doch gerade dem König David am Beispiel eines reichen Mannes klarmachen, dass es ein Verbrechen ist, wenn man selbst jede Menge Schafe hat, aber dann dem Nachbarn sein einziges wegnimmt – nur, weil Besuch kommt. Auf diesem Umweg konnte der Prophet König David dazu bringen, zu begreifen, was er getan hatte und sich selbst zu verurteilen. Denn er hatte einen Offizier in den Tod geschickt, nur um an dessen Frau zu kommen.

Übrigens: Ganz spannend – als ich hier anfing, wusste ich noch gar nicht, dass dieser Text mich zu König David führen würde. Vielleicht ist das auch eine Variante der Vorstellung des Schriftstellers Kleist von der „allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Schreiben“ – auch interessant: Im Original heißt es „beim Denken“ – da hat irgendetwas in mir eigenständig ein besseres Ziel angesteuert.

Zurück zum Thema: Mit dem Parabelbeispiel sollte klar werden, dass man auch als Schriftsteller einen Plan haben darf, den man dann genau so durchzieht.

Aber es geht auch anders: Glücklicherweise gibt es viel größere Schriftsteller als mich, die auch so fühlen, denken und schreiben wie ich – nur eben besser.

Aber egal: Es geht um Max Frisch. In seiner von Volker Weidermann geschriebenen Biografie gibt es in ein Kapitel 92: „Ich habe Chaos im Kopf“: Da erklärt der berühmte Schweizer Autor in einer Vorlesung amerikanischen Studenten, er „habe keine Theorie und dass schreiben immer mit Bildern beginne, dass er keinem Plan folge beim Schreiben, dass er mit dem “Homo Faber”  ganz anderes vorhatte als das, wohin sich die Geschichte schließlich entwickelte. Dass man Pläne auch aufgeben muss – zu Gunsten eines Wagnisses, des Wagnisses der eigenen Schöpfung.“

Weiter heißt es bei Max Frisch: Er wisse nicht, was er schreiben werde. Und was „Schreiben wirklich heißt, wie Geschichten wirklich entstehen“, müsse „immer ein Geheimnis bleiben“. Er geht sogar soweit, im Hinblick auf die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, mit er er fünf Jahre zusammen lebte, zuzugeben, selbst bei ihr „wisse er nicht, wie sie gearbeitet habe.“

Vielleicht gilt ja auch beim kreativen Schreiben das, was der Dichter Eichendorff so wunderbar formuliert hat: „Schläft ein Lied in allen Dingen“.

Jedenfalls ist es ja auch beim Dichter Kleist passiert, dass eine Geschichte ihm regelrecht entglitten ist. Da fängt er an in der Novelle „Michael Kohlhaas“ den Rachefeldzug eines anständigen Menschen gegen eine ungerechte Adelsherrschaft konsequent Schritt für Schritt bis hin zum Terror gegen eine ganze Stadt zu entwickeln. Und dann taucht plötzlich eine geheimnisvolle Frau auf – mit einer Kapsel, die ein Geheimnis enthält, das die höchste Obrigkeit des Landes, nämlich den Kurfürsten,  fast in den Wahnsinn treibt. Vor allem, als er sieht, dass der kurz vor der Hinrichtung stehende Kohlhaas als letzte Aktion die Kapsel öffnet, den Zettel liest und ihn dann einfach verschlingt.

Da hat sich eine Geschichte anscheinend einfach dafür entschieden, von einer Art Realismus in die Romantik hineinzuspringen. Es scheint also in diesem Ding ein Lied gegeben zu haben, von dem Kleist nichts wusste, als er mit dem Schreiben begann.

Halten wir also fest: Es gibt literarische Texte, die sind ausgedacht, also fiktiv – und doch haben sie eigentlich die Funktion eines Sachtextes: Sie wollen einem bestimmten Menschen oder auch uns allen etwas klarmachen – im Falle der Parabel über Erkenntniswiderstände selbst eines Königs hinaus.

Aber halt: Wir waren doch in Rom und haben eine beeindruckende Statue von Michelangelo gesehen. Aber war das wirklich dieser Bildhauer? Kurze Unsicherheit – da hilft ein KI-Chatprogramm wie You.com vielleicht weiter:

Als Frage stellen wir:

„Welcher Bildhauer hat gesagt, dass er in dem Marmorblock schon die fertige Figur sehe und sie nur noch aus ihm herausmeißeln müsse.“

Der KI reichte das und schon hatte man eine schöne Antwort, die einen zumindest im Grundsatz bestätigte:

„Dieses Zitat stammt von Michelangelo Buonarroti, einem bekannten italienischen Bildhauer aus der Renaissance. Er sagte einmal: ‚Jede Skulptur ist schon im Block Marmor vorhanden, man muss sie nur noch herausmeißeln.‘ Dieses Zitat unterstreicht die Vorstellung der Renaissance, dass die Kunst die Natur imitiert und dass die Kunstwerke bereits in der Natur vorhanden sind, aber vom Künstler entdeckt und freigelegt werden müssen. Michelangelo gilt als einer der bedeutendsten Vertreter dieser künstlerischen Bewegung, die auch großen Einfluss auf die romantische Ära hatte.“

Aber halt: Das ist ja ein schönes Beispiel dafür, dass man ein KI-Ergebnis auch genauer prüfen und weiterdenken sollte:

Die Kunst imitiert die Natur? Frisch hat also einen Homo Faber nach der Natur bzw. nach der Realität geschrieben? Aber wir wollten ja gerade zeigen, was bei einem Bildhauer anders ist und sein muss als bei einem Schriftsteller: Denn man stelle sich mal vor, Michelangelo hätte nur eine ungefähre Ziel-Idee gehabt, er hätte angefangen, etwas vom Marmor abzumeißeln – und dann wird ihm irgendwann klar, dass in diesem Block wohl was anderes steckte. Das wäre teuer geworden. Denn der Block wäre hin gewesen.

Es ist also wohl so, dass die Hand mit dem Meißel bei einem großen Bildhauer der innerlich schon fertigen Ansicht der Skulptur zur steinernen Wirklichkeit verhilft. Beim Schriftsteller ist es dann wohl eher so, dass er schon Geschriebenes wegwirft, weil er merkt, dass die Figuren sich anders entwickeln müssen, als er es sich am Anfang gedacht hatte. Die Welt des Romans entsteht also aus einer Anfangs-Konstellation, die mehr und anderes enthält,  als der Schriftsteller sich gedacht hat. Wichtig ist nur, dass am Ende frei nach Eichendorff aus dem Text ein Lied herauskommt, das stimmig ist und deshalb gut klingt.

Weitere Infos, Tipps und Materialien

 

Vergleich: Trakl, „Im Winter“ und Eichendorff, „Winternacht“ (Mat4730)

Worum es hier geht:

Wir vergleichen zwei Wintergedichte, eins von Trakl, das den Herbst vor allem als Zeit der Jagd und damit des Todes betrachtet.

Das andere ist von Eichendorff aus der Zeit der Romantik und zeigt, wie auch im Winter neues Leben entstehen kann, aber nur im Traum und mit Bezug zu Gott.

Das Trakl-Gedicht – grafisch bearbeitet

Das Eichendorff-Gedicht, grafisch bearbeitet

Kurzvorstellung des Gedichts:

In diesem Gedicht wird der Winter zunächst abweisend, dann aber auch gefährlich dargestellt. Nicht von ungefähr tauchen dann auch noch „Jäger“ auf.
In der zweiten Strophe entspannt sich dann alles scheinbar ein bisschen. Es ist sogar von „Feuerschein“ und „Hütten“ die Rede, was auf menschliche Bewohner schließen lässt. Auch ist von einem Schlitten die Rede.
Die letzte Strophe geht aber darauf nicht weiter ein, sondern schildert gleich das Ergebnis der Jagd aus der Sicht des Opfers. Die Zeile 10 lässt dann schon fast ein Blutbad ahnen. Am Ende gibt es noch „Rauch“, aber auch einen „leeren Hain“, die „Jäger“ scheinen erfolgreich „aufgeräumt“ zu haben.

Klausurbedeutung:

Das Folgende haben wir aus einem EBook übernommen, das wir hier mit Erlaubnis des Verfassers nutzen dürfen. Da werden noch mehr wichtige Gedichte des Expressionismus vorgestellt und jeweils im Hinblick auf den möglichen Einsatz bei einer Klausur bewertet.

Zu bekommen ist es u.a. hier.

 

Klausurbedeutung: @@@@
(Die Anzahl der @-Zeichen macht unsere Einschätzung der Klausurbedeutung sichtbar – wie die Sternchen bei Hotel-Bewertungen!)
Das Gedicht ist von der Länge her sehr gut für eine Klausur geeignet, auch inhaltlich hat es einiges zu bieten. Elemente des Expressionismus tauchen auch in ausreichender Länge auf. Allerdings wäre es gut, wenn im Unterricht Gedichte behandelt worden wären, mit denen man dies – möglichst kontrastierend – vergleichen kann.

Anregungen:

  1. Was unterscheidet einen Titel wie „Im Winter“ von „Winter“? Ist es eher eine Einschränkung bzw. Spezifizierung? Oder wird der Akzent eher darauf gelegt, was „im Winter“ „angerichtet“ wird, statt dass dem Winter alles eindeutig zugeordnet wird?
  2. Inwiefern könnte das „ungeheuer“ in Zeile 02 mehr sein als nur ein Eindruck, wenn man nach oben schaut? Kann es sich nicht auch auf das gesamte Geschehen beziehen?
  3. Was bedeutet es, wenn hier von den „normalen“ Menschen nur sehr am Rande gesprochen wird?
  4. Wie könnte man sie stärker zu Akteuren des Gedichtes machen, auch wenn das seine Aussage verändern würde?
  5. Was fällt auf beim Vergleich des Gedichts von Trakl mit dem von Eichendorff?

Anmerkungen zum Vergleich der beiden Gedichte:

1. Der Einstieg ist jeweils ähnlich, in beiden Fällen wird die Einsamkeit hervorgehoben, allerdings setzt Trakl gleich einen Akzent in Richtung Jagd und damit blutige Lebensgefahr.

2. Während Trakl anschließend noch bei der Beschreibung bleibt und sie etwas in Richtung Menschheit erweitert, konzentriert sich Eichendorff ganz auf einen Baum, der das Lyrische Ich mehr oder weniger ablöst, was das Zentrum der Gefühle angeht.

3. Entscheidend ist bei Eichendorff die Berührung des Baumes durch den Wind. Die Natur ist offensichtlich so eingerichtet, dass sie sich selbst in Bewegung setzt, in gewisser Weise auch heilt, was sich dann wohl auf den Menschen auswirkt.

4. Statt des Todes-Szenario bei Trakl hat man in der letzten Strophe einen typisch romantischen Traum mit Hoffnung auf eine neue „Frühlingszeit“, bei der auch „Gottes Lob“ und damit ein religiöser Bezug nicht fehlen darf.

5. Insgesamt sieht man also die Gemeinsamkeit von Verlassenheit bzw. Einsamkeit in der Winterzeit. Während diese dann bei Trakl aber nur durch Jagd und Tod abgelöst wird, haben wir bei Eichendorff Verzauberung und einen Hoffnungstraum im Gefühl einer großen Geborgenheit in einer göttlichen Weltordnung.

Weitere Infos, Tipps und Materialien 

https://textaussage.de/weitere-infos 

Vergleich der Theaterauffassungen von Brecht und Dürrenmatt (Mat1118 )

Dürrenmatt und Brecht: Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Hinblick auf das Theater

  1. Dürrenmatt grenzt sich wie Brecht vom klassischen Theater ab, wie es seit der Zeit des alten Griechen Aristoteles und bis zu Goethe und Schiller und darüber hinaus praktiziert worden ist.
  2. Brecht kritisierte vor allem die Bedeutung der Illusion für die sogenannte Katharsis: Die Zuschauer sollten in das Geschehen des Stücks so einbezogen werden, dass sie die Handlung fast am eigenen Leibe spüren. Deshalb die sogenannten drei Einheiten: In der Einheit der Zeit eines Tagesablaufs, in der Einheit des Ortes – ein Ortswechsel würde die Illusion stören – und natürlich die Einheit der Handlung, am besten auf den Helden fixiert, sei es direkt oder indirekt.
  3. Zu den „drei Einheiten“ kam noch die Idee der sog. „Fallhöhe“: Gemeint war damit, dass möglichst hohe Personen im Mittelpunkt stehen sollten. Wenn die nämlich Opfer ihres Schicksals wurden – wie etwa der Königssohn Ödipus, der später seinen Vater umbringt und als neuer König seine Mutter heiratet (beides tut er, ohne das Verwandtschaftsverhältnis jeweils zu kennen) – ist nach Meinung der klassischen Autoren nach Aristoteles, der Erschütterungseffekt noch größer.
  4. Dem setzte Brecht ein „episches Theater“ entgegen – eigentlich ein Widerspruch in sich, denn in einem Drama wird alles auf der Bühne gespielt und nicht erzählt. Jetzt kommen kommentierende und kontrastierende Elemente als Verfremdungseffekte hinzu und sollen den Zuschauer aus seinem „Besoffensein“ – so formulierte es in etwa Brecht – herauslösen und zum Nachdenken bringen.
  5. Am deutlichsten wird das am Schluss des „Guten Menschen von Sezuan“, wo ausdrücklich gefordert wird, dass die Zuschauer sich selbst ein gutes Ende ausdenken sollen.
  6. Real war es bei Brecht in seinen sog. „Lehrstücken“ aber immer, dass die Zuschauer natürlich das am Ende denken sollten, was Brecht im Stück angelegt hatte. Ein klassischer Fall von „Intentionalität“, was ja bedeutet, dass alles auf bestimmte Zielpunkte zuläuft.
  7. Dürrenmatt nahm Ideen von Brecht auf – man denke an die Verfremdungseffekte in „Die Physiker“, das seltsame Vorwort, das genauso seltsame Verhalten des Inspektors bei seinen Ermittlungen und ähnliches mehr.
    Beim Vorwort kann man gut als Beispiel nehmen, wie über die ermordete Krankenschwester gesprochen wird:
    Sie „liegt auf dem Parkett, in tragischer und definitiver Stellung“ (13).
    Hier merkt man deutlich, wie es ganz offensichtlich mehrere Ebenen gibt – und eben auch eine des Kommentars.Besonders wendet er sich gegen die aristotelische Vorstellung des großen Helden. Für ihn gibt es so was in den komplexen Verhältnissen unserer Zeit nicht mehr.
  8. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass Dürrenmatt tatsächlich jede „Lehre“ aus dem Stück heraus offenlässt – ja noch viel schlimmer: Es scheint überhaupt keine zu geben – außer den kargen Andeutungen in den „21 Punkten zu den Physikern“. Dürrenmatt begnügt sich damit, eine groteske Welt darzustellen, in der die auf groteske Weise scheitern, die doch eigentlich das Gute wollten.

Hilfreiche Links:

Schreibaufgabe: Position zu Dürrenmatts „Die Physiker“ zu einer These verarbeiten (Mat4541)

Die Herausforderung: Eine Position in einer These (Forderung) ausdrücken

  • Der Philosoph Hans Jonas hat in „Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung“, Suhrkamp: Ffm 1987, S. 272f, 274f, 283f eine interessante Stellungnahme zur Frage der Verantwortung der Wissenschaftler abgegeben.

Die Position von Hans Jonas

  • Die zentralen Punkte werden hier kurz aufgelistet.
    • Wissenschaftler stehen ständig und immer mehr unter dem Druck der „Nutzung“ der Ergebnisse ihrer Arbeit.
    • Die praktische Verwendung theoretischer Wissenschaftsergebnisse hält Jonas für unvermeidlich.
    • Dem irgendwie auszuweichen, wie Möbius es tut, ist für Jonas eine „negative Ausübung der Verantwortung“
    • weil die Forschungen vielen „wohltätigen, lebensfördernden“ Zwecken dient.
    • Vor diesem Hintergrund sieht Jonas eine „Zweigesichtigkeit“ der Macht, deren negativen Seiten man nicht ausweichen kann, weil man die positiven braucht.
    • Ja, er geht sogar so weit, dass ständiger Fortschritt nötig ist, um die negativen Folgen früheren Fortschritts zu bewältigen.
    • Allerdings sieht Jonas den Menschen durchaus in der Rolle von Goethes „Zauberlehrling“, glaubt aber, dass „die sehende Furcht […] etwas zu seiner Zügelung tun kann.“

Versuch der Umwandlung der Position in eine These / Forderung

  •  Wenn man das in einer einzigen These im Rahmen eines Schreibauftrags zusammenfassen wollte, könnte das etwa so geschehen:
    • Statt aus Angst vor den Folgen wissenschaftlichen Fortschritts diesen zu verhindern oder zu verheimlichen, sollte man darauf setzen, dass man sich der Gefahren bewusst wird und die dabei entstehende „sehende Furcht“ für einen verantwortlichen Umgang mit dem Fortschritt nutzt. Dabei kann weiterer Fortschritt genutzt werden, um die Gefahren früheren Fortschritts einzudämmen oder zu beseitigen.
    • Hier ist es interessant, nach Beispielen zu suchen
      • Die Elektromobilität wird zum Beispiel genutzt, um die Mobilität zu erhalten, aber die Gefahren für das Klima zu reduzieren.
      • Selbst im Falle von Atomraketen können möglicherweise Abwehrraketen helfen – zumindest hört man, dass die Atommächte diese als Einschränkung ihres Bedrohungspotenzials sehen.
      • usw.

Weiterführende Hinweise

Sammlung von Gryphius-Gedichten – mit Interpretationshinweisen (Mat4526)

Da wir immer wieder nach Gedichten bestimmter Dichter gefragt werden, stellen wir hier einfach mal die zusammen, die wir bearbeitet und im Internet veröffentlicht haben.

Wir hoffen, dass das hilft, entweder um sich einen allgemeinen Eindruck zu verschaffen, oder auch, um zufällig das richtige Gedicht zu erwischen, das man braucht 😉

Wir wünschen jedenfalls viel Erfolg.

Anmerkungen zum Gedicht „“Menschliches Elende““ von Andreas Gryphius“
https://textaussage.de/andreas-gryphius-menschliches-elende

Andreas Gryphius, „Es ist alles eitel“ – ein typisches Barockgedicht, das man auch kritisieren kann (Mat683)
Mit einem Beispiel für eine Modernisierung
https://textaussage.de/gryphius-es-ist-alles-eitel

Gryphius, Tränen des Vaterlandes, mp3
https://www.schnell-durchblicken2.de/gryphius-traenen-mp3

Gryphius, An eine Jungfrau – gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit?
https://wvm.schnell-durchblicken3.de/gryphius-an-eine-jungfrau-barockgedicht/

Gryphius, „“An eine Jungfrau““ Vergleich mit Christian Hofmann von Hofmannswaldau , „“Beschreibung vollkommener Schönheit“““
https://www.schnell-durchblicken2.de/gryphius-hoffmannswaldau

Gryphius, „Abend“
http://textaussage.de/gryphius-abend

Gryphius, Ebenbild unseres Lebens
https://www.einfach-gezeigt.de/gryphius-ebenbild-unseres-lebens

Gryphius, Einsamkeit
https://www.einfach-gezeigt.de/gryphius-einsamkeit

gryphius-an-eine-jungfrau-video
https://www.einfach-gezeigt.de/gryphius-an-eine-jungfrau-video

Kritische Anmerkungen zum Gedicht „“An die Welt““ von Andreas Gryphius
https://textaussage.de/gryphius-an-die-welt

Wer noch mehr möchte … 

Anders Tivag Blog 2: Die Beschränktheit der reinen Begriffe (Mat4530 )

Bitte nicht wundern.

Wer ärgert sich nicht auch über Texte, die man erst mal mühsam zerlegen muss, um sie zu verstehen.

Deshalb präsentiere ich hier einfach mal meine Gedanken – schön gegliedert – und hoffe, dass  das positiv aufgenommen wird.

  1. Es ist immer wieder erstaunlich,
    1. wie einen plötzlich ein Gedanke überfallen kann, der zumindest einem selbst neu und vielleicht sogar revolutionär erscheint.
    2. Nun soll man sich nicht überschätzen – wahrscheinlich haben das auch schon andere gedacht. Aber es lohnt sich auch jedenfalls „nachzudenken“, auch wenn es ein „Nach-denken“ ist.
  2. Ausgangspunkt
    1. war der Ärger über einen Text zum Kulturbegriff, der seltsam allgemein blieb.
    2. An allen möglichen Stellen hätte man sich gewünscht, dass der Autor genauer gesagt hätte, was er da eigentlich meint.
    3. Aber der Text war ziemlich komplex und wir kannten uns auch nicht genug aus – deshalb nennen wir den Autor auch nicht, sondern nehmen das nur zum Anlass eine These aufzustellen:
  3. „Die einfachen Begriffe reichen in vielen Fällen nicht aus, um etwas präzise verständlich zu machen!“
    1. Das beginnt schon mit dem Satz:
      „Die meisten Menschen sind egoistisch.“
    2. Dabei geht es gar nicht darum, ob das zahlenmäßig stimmt. Es ist viel schlimmer. Was Menschen sind, ist klar. Aber was heißt „egoistisch“ zum Beispiel.
      • Ist das der Mann oder die Frau, die ihren Partner nicht mit anderen teilen wollen?
      • Ist das jemand, der einem Bettler kein Geld gibt?
      • Ist das jemand, der in der Schule einen während einer Klassenarbeit nicht abschreiben lässt?
    3. Man kann das beliebig erweitern und stellt dann fest, dass Begriffe ziemlich seltsame Gruppenbezeichnungen sind.
      1. Das kann man sehr gut am Wort „Spiel“ sehen.
        • Im Sandkasten ist das bei Kleinkindern das Ausprobieren von Möglichkeiten, die sich da ergeben.
        • Auf einem Fußballfeld ist das eine erste Angelegenheit, die über Millionen von Euro entscheiden kann.
      2. Natürlich haben alle diese Verwendungsweisen etwas Gemeinsames wie auch bei den Beispielen für „Egoismus“ – aber man merkt, wie wichtig es ist, in bestimmten Zusammenhängen zumindest die Weite der Bedeutungsspielräume etwas einzugrenzen.
    4. Halten wir fest:
      1. Jemand, der einen Begriff verwendet, tut das hoffentlich mit ganz bestimmten Vorstellungen. Die sollte er aber auch offenlegen.
      2. Schluss also mit Texten, in denen der Verfasser die eigenen Gedanken nicht veranschaulicht. Das gilt zumindest für Sachtexte, wenn sie wirklich Klarheit schaffen wollen.
      3. Wenn nicht, sollte man das deutlich sagen und sich gar nicht auf eine Auseinandersetzung einlassen – denn das ist dann ziemlich sinnlose Spiegelfechterei.
      4. Es wäre schön, wenn jemand diesen Ball aufnimmt und nicht gleich verzweifelt, wenn er einen Text vorfindet, den er nicht versteht. Es könnte sein, dass der Autor das entweder gar nicht wollte oder sich nicht viel Mühe gegeben hat 🙂

Wir freuen uns auf jeden Fall, wenn hier bald Beispiele gebracht werden – sowohl solche, auf die die Kritik zutrifft, als auch solche, die sich zumindest Mühe geben, Klarheit zu schaffen – als Basis für jedes vernünftige Gespräch darüber.

Wer noch mehr möchte … 

Ballade kreativ: Herder „Erlkönigs Tochter“ (mat4380)

Hier die mp3-Datei, in der gezeigt wird, wie man mit Herders Ballade „Erlkönigs Tochter“ gut kreativ umgehen kann. Am Anfang heißt es zwar „Erlkönig“, aber das gibt sich im Laufe des Vortrags 😉

Das Ganze gibt es auch auf einer ordentlichen Website mit Text:
https://textaussage.de/der-anders-tivag-blog-folge-1-erlkoenig-kreativ

Wer noch mehr möchte … 

 

Matthias Politycki, „Goldener Oktober“

  1. Das Gedicht beginnt sehr distanziert, indem das lyrische Ich erst mal ganz von außen auf sich und seine Situation schaut.
  2. Hervorgehoben wird nur das Sitzen im Central Park von New York, was man in einer Unter-Überschrift erfährt, und die Umgebung („inmitten bunter Blätter / und jeder Menge Wolkenkratzer“), die gegensätzliche Züge aufweist und dabei den Titel aufnimmt.
  3. In der zweiten Versgruppe wird vor allem die Müdigkeit des lyrischen Ichs beschrieben, die weniger körperlich als seelisch ist.
  4. Es folgt eine Fülle von möglichen Aktivitäten, die vor allem durch ihre fantastische Beliebigkeit gekennzeichnet sind, zum Teil aber auch wegen fehlender Voraussetzungen nicht nutzbar sind.
  5. Es folgen vier Zeilen, die alles aufzählen, was das lyrische Ich jetzt nicht mehr machen möchte,
  6. Bevor in der letzten Versgruppe das Ganze als Gedankenmodell entlarvt wird, bei dem am Ende kein Gewinn gemacht würde, weil man man selbst bleiben würde – trotz der Umgebung und aller gedanklichen Möglichkeiten.
  7. Insgesamt ein Gedicht, das tatsächlich so eine Art Lebensmüdigkeit präsentiert – ohne Ziele, ohne Antriebslust.
  8. Man fragt sich wirklich, was das für ein Menschenbild ist, das da gezeichnet wird. Man kann darüber wunderbar diskutieren, indem man zunächst einmal die Frage stellt, wie viele der Menschen, die man kennt, so müde und perspektivlos sind. Anschließend taucht die Frage auf, ob man selbst so sein möchte. Und schließlich taucht die Frage auf, warum solche Gedichte im Unterricht behandelt werden, wo es doch eher darum ginge, jungen Menschen Mut zur Entdeckung ihres eigenen Lebens zu machen.

Weiterführende Hinweise 

Heinrich Heine, „Lebensfahrt“

Heine, „Lebensfahrt“ als Reisegedicht

Der Titel “ Lebensfahrt.“ deutet schon an, dass hier das Leben insgesamt als Fahrt gesehen wird. Spannend ist sicherlich, welchen besonderen Akzent dieser Dichter zwischen Romantik und Vormärz hier setzt.

(1) Ein Lachen und Singen! Es blitzen und gaukeln
Die Sonnenlichter. Die Wellen schaukeln
Den lustigen Kahn. Ich saß darin
Mit lieben Freunden und leichtem Sinn.

  • Die erste Strophe präsentiert einen Rückblick („saß“) auf eine lustige Kahnfahrt mit Freunden.
  • Das lyrische Ich hebt hervor, dass alles mit „leichtem Sinn“ vonstatten ging, dass man sich also keine Sorgen und auch keine schweren Gedanken machte.

(2) Der Kahn zerbrach in eitel Trümmer,
Die Freunde waren schlechte Schwimmer,
Sie gingen unter, im Vaterland;
Mich warf der Sturm an den Seinestrand.

  • Die zweite Strophe schildert dann eine Art Schiffbruch, die aber wohl im übertragenen Sinne zu verstehen ist,
  • denn es ist kaum anzunehmen, dass das lyrische Ich von irgendwoher von einem „Sturm an den Seinestrand“, also nach Frankreich verschlagen wurde.
  • Hier spielt Heine offensichtlich auf seine eigene Emigrantensituation an.
  • Wichtig ist, dass die Freunde als „schlechte Schwimmer“ bezeichnet werden, also nicht so klug oder geschickt waren und deshalb „im Vaterland“ untergingen.

(3) Ich hab’ ein neues Schiff bestiegen,
Mit neuen Genossen; es wogen und wiegen
Die fremden Fluten mich hin und her –
Wie fern die Heimat! mein Herz wie schwer!

  • Jetzt geht das lyrische Ich genauer auf seine neue Situation ein, die es als „ein neues Schiff“ bezeichnet, was den metaphorischen Charakter des Schiffsmotivs endgültig deutlich macht.
  • Hervorgehoben wird, dass das lyrische Ich jetzt „mit neuen Genossen“ lebt
  • und dass die „fremden Fluten“ doch eine gewisse Herausforderung darstellen, man keinen rechten Grund bekommt.
  • Am Ende wird deutlich, wie sehr das lyrische Ich seine Heimat vermisst.
  • Eine Erfahrung, die sicher viele Emigranten machen.

(4) Und das ist wieder ein Singen und Lachen –
Es pfeift der Wind, die Planken krachen –
Am Himmel erlischt der letzte Stern –
Wie schwer mein Herz! die Heimat wie fern!

  • Am Schluss wird deutlich gemacht, dass bald eine ähnliche Situation vorliegt wie am Anfang,
  • mit dem Unterschied, dass zwar der Weg in einen möglichen zweiten Schiffbruch schon beschrieben wird,
  • dieser aber noch nicht eindeutig eingetreten ist.
  • Was aber eindeutig geblieben ist, ist die Sehnsucht nach der Heimat.
  • Interessant ist dabei die Überkreuzstellung an zwei wichtigen Stellen:
    • 1,1: „Ein Lachen und Singen! „
    • 4,1: „Und das ist wieder ein Singen und Lachen –“
    • 3,4: „Wie fern die Heimat! mein Herz wie schwer!“
    • 4,4: „Wie schwer mein Herz! die Heimat wie fern!“

Aussage und Bedeutung

Das Gedicht zeigt

  1. die Situation eines Emigranten, der zwar in gewisser Weise gerettet ist, aber doch die Heimat vermisst,
  2. dass der Emigrant sich sich zumindest ansatzweise über seine alten Freunde als „schlechte Schwimmer“ erhebt,
  3. dass auch im Umfeld der neuen Freunde sich bald eine ähnliche Situation wieder einstellt
    1. sowohl, was die Atmosphäre angeht,
    2. als auch in grundsätzlicher Hinsicht (Gefahr eines erneuten Schiffbruchs)
  4. dass am Ende das Heimweh das vorherrschende Gefühl ist.

Weiterführende Hinweise 

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