Anders Tivag, „Vom Eigenleben der Geschichten“ (Mat5463)

Anders Tivag

Vom Eigenleben der Geschichten

Ich habe große Achtung vor Handwerkern. Sie können etwas – und wenn ich ein Problem im Haus habe, kommen sie vorbei und können bald etwas sagen, was sich klug anhört. Manchmal kratzen sie sich aber auch erst am Kopf. Die Standardlösungen scheinen nicht zu passen – aber dann: Das Gesicht hellt sich auf – sie haben eine Idee – dann wird alles gut.

Es gibt auch solche Schriftsteller: Sie sehen ein Problem – und haben entweder gleich eine fertige Lösung oder denken sich eine passende aus. Aber irgendwie gefällt mir daran etwas nicht: Zum einen finde ich es schade, wenn z.B. ein literarischer Text nur die Funktion hat, eine vorher schon fertige Aussage zu illustrieren. Aber das ist natürlich völlig legitim – man denke nur an die Parabeln. Unvorstellbar, dass sich bei dem Propheten Nathan seine Geschichte mit dem Schaf anders entwickelt hätte als geplant. Er wollte doch gerade dem König David am Beispiel eines reichen Mannes klarmachen, dass es ein Verbrechen ist, wenn man selbst jede Menge Schafe hat, aber dann dem Nachbarn sein einziges wegnimmt – nur, weil Besuch kommt. Auf diesem Umweg konnte der Prophet König David dazu bringen, zu begreifen, was er getan hatte und sich selbst zu verurteilen. Denn er hatte einen Offizier in den Tod geschickt, nur um an dessen Frau zu kommen.

Übrigens: Ganz spannend – als ich hier anfing, wusste ich noch gar nicht, dass dieser Text mich zu König David führen würde. Vielleicht ist das auch eine Variante der Vorstellung des Schriftstellers Kleist von der „allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Schreiben“ – auch interessant: Im Original heißt es „beim Denken“ – da hat irgendetwas in mir eigenständig ein besseres Ziel angesteuert.

Zurück zum Thema: Mit dem Parabelbeispiel sollte klar werden, dass man auch als Schriftsteller einen Plan haben darf, den man dann genau so durchzieht.

Aber es geht auch anders: Glücklicherweise gibt es viel größere Schriftsteller als mich, die auch so fühlen, denken und schreiben wie ich – nur eben besser.

Aber egal: Es geht um Max Frisch. In seiner von Volker Weidermann geschriebenen Biografie gibt es in ein Kapitel 92: „Ich habe Chaos im Kopf“: Da erklärt der berühmte Schweizer Autor in einer Vorlesung amerikanischen Studenten, er „habe keine Theorie und dass schreiben immer mit Bildern beginne, dass er keinem Plan folge beim Schreiben, dass er mit dem “Homo Faber”  ganz anderes vorhatte als das, wohin sich die Geschichte schließlich entwickelte. Dass man Pläne auch aufgeben muss – zu Gunsten eines Wagnisses, des Wagnisses der eigenen Schöpfung.“

Weiter heißt es bei Max Frisch: Er wisse nicht, was er schreiben werde. Und was „Schreiben wirklich heißt, wie Geschichten wirklich entstehen“, müsse „immer ein Geheimnis bleiben“. Er geht sogar soweit, im Hinblick auf die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, mit er er fünf Jahre zusammen lebte, zuzugeben, selbst bei ihr „wisse er nicht, wie sie gearbeitet habe.“

Vielleicht gilt ja auch beim kreativen Schreiben das, was der Dichter Eichendorff so wunderbar formuliert hat: „Schläft ein Lied in allen Dingen“.

Jedenfalls ist es ja auch beim Dichter Kleist passiert, dass eine Geschichte ihm regelrecht entglitten ist. Da fängt er an in der Novelle „Michael Kohlhaas“ den Rachefeldzug eines anständigen Menschen gegen eine ungerechte Adelsherrschaft konsequent Schritt für Schritt bis hin zum Terror gegen eine ganze Stadt zu entwickeln. Und dann taucht plötzlich eine geheimnisvolle Frau auf – mit einer Kapsel, die ein Geheimnis enthält, das die höchste Obrigkeit des Landes, nämlich den Kurfürsten,  fast in den Wahnsinn treibt. Vor allem, als er sieht, dass der kurz vor der Hinrichtung stehende Kohlhaas als letzte Aktion die Kapsel öffnet, den Zettel liest und ihn dann einfach verschlingt.

Da hat sich eine Geschichte anscheinend einfach dafür entschieden, von einer Art Realismus in die Romantik hineinzuspringen. Es scheint also in diesem Ding ein Lied gegeben zu haben, von dem Kleist nichts wusste, als er mit dem Schreiben begann.

Halten wir also fest: Es gibt literarische Texte, die sind ausgedacht, also fiktiv – und doch haben sie eigentlich die Funktion eines Sachtextes: Sie wollen einem bestimmten Menschen oder auch uns allen etwas klarmachen – im Falle der Parabel über Erkenntniswiderstände selbst eines Königs hinaus.

Aber halt: Wir waren doch in Rom und haben eine beeindruckende Statue von Michelangelo gesehen. Aber war das wirklich dieser Bildhauer? Kurze Unsicherheit – da hilft ein KI-Chatprogramm wie You.com vielleicht weiter:

Als Frage stellen wir:

„Welcher Bildhauer hat gesagt, dass er in dem Marmorblock schon die fertige Figur sehe und sie nur noch aus ihm herausmeißeln müsse.“

Der KI reichte das und schon hatte man eine schöne Antwort, die einen zumindest im Grundsatz bestätigte:

„Dieses Zitat stammt von Michelangelo Buonarroti, einem bekannten italienischen Bildhauer aus der Renaissance. Er sagte einmal: ‚Jede Skulptur ist schon im Block Marmor vorhanden, man muss sie nur noch herausmeißeln.‘ Dieses Zitat unterstreicht die Vorstellung der Renaissance, dass die Kunst die Natur imitiert und dass die Kunstwerke bereits in der Natur vorhanden sind, aber vom Künstler entdeckt und freigelegt werden müssen. Michelangelo gilt als einer der bedeutendsten Vertreter dieser künstlerischen Bewegung, die auch großen Einfluss auf die romantische Ära hatte.“

Aber halt: Das ist ja ein schönes Beispiel dafür, dass man ein KI-Ergebnis auch genauer prüfen und weiterdenken sollte:

Die Kunst imitiert die Natur? Frisch hat also einen Homo Faber nach der Natur bzw. nach der Realität geschrieben? Aber wir wollten ja gerade zeigen, was bei einem Bildhauer anders ist und sein muss als bei einem Schriftsteller: Denn man stelle sich mal vor, Michelangelo hätte nur eine ungefähre Ziel-Idee gehabt, er hätte angefangen, etwas vom Marmor abzumeißeln – und dann wird ihm irgendwann klar, dass in diesem Block wohl was anderes steckte. Das wäre teuer geworden. Denn der Block wäre hin gewesen.

Es ist also wohl so, dass die Hand mit dem Meißel bei einem großen Bildhauer der innerlich schon fertigen Ansicht der Skulptur zur steinernen Wirklichkeit verhilft. Beim Schriftsteller ist es dann wohl eher so, dass er schon Geschriebenes wegwirft, weil er merkt, dass die Figuren sich anders entwickeln müssen, als er es sich am Anfang gedacht hatte. Die Welt des Romans entsteht also aus einer Anfangs-Konstellation, die mehr und anderes enthält,  als der Schriftsteller sich gedacht hat. Wichtig ist nur, dass am Ende frei nach Eichendorff aus dem Text ein Lied herauskommt, das stimmig ist und deshalb gut klingt.

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