Anders Tivag
Von armen Dichtern, die nichts von ihrer Epoche wissen
Im April 2023 ist es wieder passiert.
Ein Schüler sitzt im Abitur über dem Gedicht „Nacht“ von Ludwig Tieck und ordnet es der Klassik zu. Nach der Klausur hört er, dass die meisten anderen es der Romantik zugeordnet haben.
Jetzt hat er ein Problem. Man macht ja nur einmal Abitur – und er will vielleicht Arzt werden – und da können einige fehlende Punkte dazu führen, dass man später zu lange oder vergeblich auf einen guten Doktor wartet.
Nun ja, wir wollen das mit diesem Gedicht hier gar nicht klären.
Der Fall hat uns nur wieder dazu gebracht, über das Verhältnis von Dichter und Epoche nachzudenken.
Anscheinend erfahren viele Schülis in der Schule gar nicht, dass die Epochen für Schriftsteller überhaupt keine Bedeutung haben. Sie leben zwar in einer, die von den Jahreszahlen her passt. Aber das alles hat die Wissenschaft viel später erst festgestellt. Eigentlich erkennt man eine Epoche erst, wenn sie vorbei ist. Sonst könnte man ja auch die Endjahreszahl gar nicht festlegen 😉
Halten wir also fest: Ein Schriftsteller lebt in einer Epoche, von der er gar nichts weiß. Denn es gibt sie ja noch gar nicht. Vielleicht real, weil viele Schriftsteller ihre Werke verfassen wie Leute, die sich nach der aktuellen Mode kleiden. Sie tun es einfach, weil es ihnen gefällt. Vor ihnen liegt keine Liste, die erst später für den Deutschunterricht erstellt wird. Eine lustige Vorstellung, dass ein Autor da vor seinem Computer hockt. Er hat eine wunderbare Idee im Kopf – und die Finger gleiten nur so über die Tasten. Zwischendurch hält er immer an, sucht den Checklistenzettel und denkt dann: Habe ich auch wirklich an dies gedacht und an das?
In der Wirklichkeit ist das ganz anders. Wir wechseln mal zu anderen Checklisten des Deutschunterrichts. Da schreibt ein Autor Kurzgeschichten – und jetzt ist da eine, die wird immer länger. Soll er sie dann aus dem geplanten Kurzgeschichtenband rausnehmen, obwohl die Story einfach großartig ist. Allerdings ist das Ende nicht offen genug – und aus lauter Freude an der Ausgangssituation hat er sie ein bisschen ausführlicher dargestellt. Natürlich lässt er die Geschichte so, wie sie für ihn sein muss – und alle Deutsch-Checklisten können ihn gern haben.
Tja, eigentlich wollten wir ja bei den Epochen bleiben – dann kehren wir doch wenigstens zu ihnen zurück.
Wir hatten festgestellt, dass die Dichter nichts von der Epoche wissen, in der sie schreiben – aber sie schreiben halt so, wie es in diese Zeit passt und wie viele andere es auch machen. Manche schreiben auch einfach nur deshalb so, weil sie nicht wollen, dass ihre Schriftstellerkollegen und -kolleginnen die Nase rümpfen.
Manche sind aber auch tapfer, richtig eigenwillig und schreiben so wie unser Kurzgeschichtenautor – einfach so, wie die Geschichte oder das Gedicht es verlangen.
Und dann passiert noch etwas Seltsames: Sie schauen raus – und stellen fest, dass Leute sich durchaus unterschiedlich kleiden. Die einen noch so, wie bisher. Andere probieren aber auch schon Neues aus, was sie irgendwo staunend gesehen haben und was ihnen gefällt. Jetzt könnten wir den Autor beruhigen, dass er durchaus mal ein bisschen altmodisch schreiben kann – und dann auch mal was Neues ausprobieren. Vielleicht schreibt ein Autor des 21. Jahrhunderts auch einfach mal im Stil der Romantik um 1800 – einfach, weil er das schön findet und es zu dem passt, was er ausdrücken will.
Ab jetzt also kein Schrecken mehr, wenn ein Gedicht wie das von Tieck im Steil der Romantik anfängt und am Ende auch vom Klassiker Goethe stammen könnte.
Vielleicht hat die eine oder andere Lehrkraft des Faches Deutsch jetzt auch mal Lust, ein Gedicht im Stil der Barockzeit oder des Expressionismus zu schreiben 😉
Wir würden uns jedenfalls freuen, wenn so was in einem Kommentar hierzu auftaucht !!!
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- Übersicht über Texte von Anders Tivag
https://textaussage.de/anders-tivag-ein-schoenes-beispiel-fuer-einen-behelfsschriftsteller