Kritische Anmerkungen zu Georg Heyms Gedicht „Vorstadt“ (Mat4312)

Georg Heym, „Die Vorstadt“ ist u.a. Georg Heym, Die Vorstadt zu finden.

Georg Heym

„Die Vorstadt“

Eine notwendig subjektive Interpretation

Beim Lesen und genauen Betrachten dieses Gedichtes musste einfach einiges schon mal deutlich angemerkt werden, was man in einer normalen Analyse nicht findet. Wir werden diese Passagen rot markieren – und sind ggf. auch auf kritische Reaktionen gespannt. Aber ein doch recht ungewöhnliches Gedicht erfordert eben auch ungewöhnliche Reaktionen. Um es vorab zu sagen:

Wir meinen, in diesem Gedicht mal wieder eine spezifische Schwäche mancher Gedichte des Expressionismus vorgefunden zu haben: nämlich den Übergang von der Beschreibung von Problemen und Missständen zu einer Darstellung, die man als menschenverachtend ansehen kann.

Dabei geht es nur um einen auf dieses Gedicht bezogenen kritischen Blick. Das ändert nichts daran, dass Georg Heym ein zu Recht berühmter Dichter ist, der seine außerordentlichen Fähigkeiten auch in vielen Gedichten unter Beweis stellt. Man denke etwa an „Der Gott der Stadt“.

Näheres zu diesem Thema ist hier zu finden:
https://textaussage.de/lars-kruesand-menschenverachtung-im-expressionismus

Nun aber erst mal zu den sachlichen Bemerkungen und einigen kritischen.

Anmerkungen zum Titel

Der Titel nennt zunächst nur einen Ort und zwar einen im Vorfeld des Stadtzentrums. Dort gibt es dann möglicherweise weniger Geschäfte, aber mehr Wohnhäuser.

Anmerkungen zur Strophe 1

  1. In ihrem Viertel, in dem Gassenkot,
  2. Wo sich der große Mond durch Dünste drängt,
  3. Und sinkend an dem niedern Himmel hängt,
  4. Ein ungeheurer Schädel, weiß und tot,

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  • Die erste Zeile macht dann sofort deutlich, dass es in dieser Vorstadt auch eine Minderung der Lebensqualität gibt. Offensichtlich wird Unrat (Müll aller Art) von der Straße nicht regelmäßig entfernt
  • Dazu kommt eine ungesunde Atmosphäre, die mithilfe des Mondes verdeutlicht wird. Selbst sein Licht hat anscheinend Schwierigkeiten, durch diese dicke Luft hindurchzudringen.
  • Verstärkt wird der  negative Eindruck noch durch die Assoziation des lyrischen Ichs, das sich den Mond nicht etwa als Himmelslaterne, sondern als einen ungeheueren Schädel vorstellt. Damit ist man nicht weit von der Vorstellung vom Tod entfernt.

Anmerkungen zur Strophe 2

  1. Da sitzen sie die warme Sommernacht
  2. Vor ihrer Höhlen schwarzer Unterwelt,
  3. Im Lumpenzeuge, das vor Staub zerfällt
  4. Und aufgeblähte Leiber sehen macht.
  • Die zweite Strophe geht dann genauer auf die Bewohner dieser Vorstadt ein, ohne sie genauer zu bezeichnen.
  • Man hat den Eindruck, diese Menschen sind nur noch Objekte der Betrachtung, genauso wie ihre Wohnungen, die als „Höhlen schwarzer Unterwelt“ bezeichnet werden.
  • Das erinnert ein bisschen an die griechische Mythologie und die dortige Vorstellung vom Eingang in die Unterwelt.
  • Was das Aussehen dieser Menschen angeht, so wird die Ähnlichkeit der Kleidung hervorgehoben, außerdem wohl ungesundes Aussehen.

Anmerkungen zur Strophe 3

  1. Hier klafft ein Maul, das zahnlos auf sich reißt.
  2. Hier hebt sich zweier Arme schwarzer Stumpf
  3. Ein Irrer lallt die hohlen Lieder dumpf,
  4. Wo hockt ein Greis, des Schädel Aussatz weißt.
  • Interessant ist dann das, was das lyrische Ich meint zu sehen, wenn es diese Menschen betrachtet.
  • Kritischer Kommentar:
    • Leider bestätigt sich mal wieder, dass die Darstellung des Expressionismus häufig wenig zu tun hat mit Empathie, also mitfühlender Teilnahme am Schicksal von Menschen, die es nicht so gut haben.
    • Gleich in der ersten Zeile gibt es eine Beschreibung, die man normalerweise eher auf ein Tier anwenden würde als auf einen Menschen
    • Weiter mag man sich mit den Details dieser Strophe gar nicht beschäftigen.

Anmerkungen zur Strophe 4

  1. Es spielen Kinder, denen früh man brach
  2. Die Gliederchen. Sie springen an den Krücken
  3. Wie Flöhe weit und humpeln voll Entzücken
  4. Um einen Pfennig einem Fremden nach.

—-

  • Auch in dieser Strophe wiederholt sich etwas, was in der vorherigen Strophe noch nicht näher erläutert worden ist. Diesen Menschen werden irgendwelche Verletzungen zu geschrieben, die mit einer Vorstadt normalerweise nichts zu tun haben. Das lyrische Ich bemüht sich auch gar nicht, das Unpassende irgendwie zu erklären, zum Beispiel durch Fabrikarbeit.
  • Angesichts der früher schon sichtbare Darstellungstendenz wundert es einen nicht, dass anschließend die Kinder mit Flöhen verglichen werden.

Anmerkungen zur Strophe 5

  1. Aus einem Keller kommt ein Fischgeruch,
  2. Wo Bettler starren auf die Gräten böse.
  3. Sie füttern einen Blinden mit Gekröse.
  4. Er speit es auf das schwarze Hemdentuch.

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  • Auch in dieser Strophe werden Bettler automatisch mit „böse“ verbunden.
  • Offensichtlich flößen sie dem Blinden etwas ein, was der gar nicht mag.
  • Man weiß nicht, ob das aus Not oder aus Bösartigkeit geschieht. Am negativen Gesamteindruck ändert das aber nichts.

Anmerkungen zur Strophe 6

  1. Bei alten Weibern löschen ihre Lust
  2. Die Greise unten, trüb im Lampenschimmer,
  3. Aus morschen Wiegen schallt das Schreien immer
  4. Der magren Kinder nach der welken Brust.
  • Natürlich gibt es für dieses lyrische Ich auch nicht einmal Ansätze von Liebe unter diesen schwierigen Bedingungen. Stattdessen wird die Sexualität zwischen diesen Menschen auf reine Lust reduziert, die ebenfalls in einem negativen Kontext erscheint.
  • Etwas sachlich neutraler ist dann die Beschreibung des Hungers der Kinder.
  • Kritische Anmerkung:
    Dieses lyrische Ich betrachtet das alles einfach von außen oder auch von oben herab. Jedenfalls denkt es nicht im Traum daran,

    • zum einen zwischen den Menschen stärker zu differenzieren.
    • Oder auch nur die Idee einer Hilfe oder Abhilfe anzudeuten.
  • Man muss sich nur mal vorstellen, dieses Gedicht würde nicht arme Menschen in einer europäischen Vorstadt beschreiben, sondern andersfarbige Menschen in einer Kolonialwelt. Dann würde man zu Recht Rassismus vermuten.
  • Zumindest im Bereich der Menschenverachtung passt sich dieses Gedicht aber an.

Anmerkungen zur Strophe 7

  1. Ein Blinder dreht auf schwarzem, großem Bette
  2. Den Leierkasten zu der Carmagnole,
  3. Die tanzt ein Lahmer mit verbundener Sohle.
  4. Hell klappert in der Hand die Kastagnette.
  • Diese Strophe beschränkt sich wieder auf eine einigermaßen sachliche Beschreibung.
  • Man würde sich allerdings wünschen, dass das lyrische Ich zumindest versuchen würde, in alldem Unvollkommenen zumindest etwas vorzufinden, was aus dem Elend hinausweist.

Anmerkungen zur Strophe 8

  • Uraltes Volk schwankt aus den tiefen Löchern,
  • An ihre Stirn Laternen vorgebunden.
  • Bergmännern gleich, die alten Vagabunden.
  • Um einen Stock die Hände, dürr und knöchern.
  • In dieser Strophe hat man den Eindruck, dass das Gedicht sich jetzt völlig von der Realität entfernt und sich irgendeiner Horrorgeschichte zuwendet.

Anmerkungen zur Strophe 9

  1. Auf Morgen geht’s. Die hellen Glöckchen wimmern
  2. Zur Armesündermette durch die Nacht.
  3. Ein Tor geht auf. In seinem Dunkel schimmern
  4. Eunuchenköpfe, faltig und verwacht.
  • Der eben gewonnene Eindruck bleibt hier bestehen bzw. verstärkt sich sogar.
  • Denn hier wird nicht mehr eine allgemeine Situation beschrieben, sondern ein besonderes Ereignis, wie man es zum Beispiel in einem Angsttraum erlebt.

Anmerkungen zur Strophe 10

  1. Vor steilen Stufen schwankt des Wirtes Fahne,
  2. Ein Totenkopf mit zwei gekreuzten Knochen.
  3. Man sieht die Schläfer ruhn, wo sie gebrochen
  4. Um sich herum die höllischen Arkane.
  • Auch diese Strophe hat nicht mehr viel mit konkreter Wirklichkeit zu tun. Die Horrorgeschichte wird einfach fortgeführt.
  • Am einfachsten hilft hier wohl die Vorstellung, die für viele expressionistische Gedichte gilt: Man will etwas Bestimmtes ausdrücken, aber eher ein Gefühl als einen Sachverhalt. Und dann sucht man sich einigermaßen passende Bilder, die das eigentlich nur individuell bzw. sehr subjektiv illustrieren.
  • Ein gemeinsames Verständnis zwischen Autor beziehungsweise lyrischem Ich und Leser ist so kaum möglich.

Anmerkungen zur Strophe 11

  1. Am Mauertor, in Krüppeleitelkeit
  2. Bläht sich ein Zwerg in rotem Seidenrocke,
  3. Er schaut hinauf zur grünen Himmelsglocke,
  4. Wo lautlos ziehn die Meteore weit.
  • Der Autor kann es nicht lassen, die letzte Strophe noch mit einer besonders negativen Bemerkung über einen behinderten Menschen zu versehen.
  • Offensichtlich gibt es für ihn nur eine einzige Erklärung, wenn ein solcher Mensch versucht, sich zumindest ein bisschen schön anzuziehen.
  • Für das lyrische Ich/den Autor ist das nur ein Zeichen von Eitelkeit.
  • Und warum am Ende die Himmelsglocke grün ist und Meteore auch noch vorbeiziehen müssen, lassen wir mal das Geheimnis des Autos sein.

Zusammenfassung und Ausblick

  • Insgesamt ein Gedicht, das man am Anfang kurzzeitig als eine ernstzunehmende Beschreibung sozialen Elends versteht. Umso größer ist dann die Enttäuschung, wenn daraus nichts anderes wird als eine billige Horrorvision, mit der man als Leser wenig anfangen kann.
  • Im Unterschied etwa zu dem Gedicht „Der Gott der Stadt“ ist diesem Gedicht zumindest im zweiten Teil und in der Gesamtaussage kein konkreter Sinn zu entnehmen.
  • Anmerkung:
    Vielleicht könnte man das auch noch mit dem Gedicht „Die Irren“ vergleichen. Auch dort ist wenig Mitmenschlichkeit zu spüren, aber das kann man wenigstens dem Umstand zuschreiben dass hier ohne Beschönigung die Wirklichkeit in früheren Zeiten beschrieben wird, was den Umgang mit Geisteskranken angeht. Hier aber werden ganz normale Menschen präsentiert, allerdings in einer schlimmen Umgebung.
  • Außer dass man hungernden Kindern etwas zu essen geben könnte und blinde Menschen besser versorgen, enthält dieses Gedicht nichts Positives. Und auch das muss man sich eher noch auf einem Umweg erschließen.

Kreativ-Anregungen

Man könnte sich probeweise mal mal vorstellen, dass ein paar expressionistische Dichter, gut versorgt von ihren wohlhabenden Eltern, abends in der Kneipe sitzen und sich gegenseitig ihre Gedichte vorlesen. Man muss befürchten, dass die Zuhörer dann – wie beabsichtigt – doch ein bisschen ins Gruseln kommen, sich mit einem: „Echt starker Text!“ aus der Affäre ziehen und sich dann der nächsten Alkoholrunde zuwenden.

 

Wer noch mehr möchte …