Anders Tivag,
Soll mal einer sagen: „Der Deutschunterricht bringt nichts …“
Da kann natürlich was dran sein, aber vielleicht liegt es auch am Umgang mit Texten.
Mein Neffe – nennen wir ihn Eddy – und ich hatten jedenfalls heute ganz schön viel Spaß – und das sogar mit einer Fabel von Lessing – und der ist schon über 200 Jahre tot.
Ausgangspunkt war, dass er – natürlich nicht Lessing, sondern mein Neffe – auf mich zukam und frage: „Was soll denn hier die Moral sein?“ Und damit hielt er mir einen Zettel mit einem Text hin.
Aber da hatte ich schon Erfahrung – schließlich sollte mein Neffe ja noch mehr lernen. Also sage ich ihm: Nö, das ist langweilig, wenn ich das lese und du hast nichts zu tun. Erzähl mir lieber mit deinen Worten, worum es in dem Text geht.
Eddy murrte etwas, aber dann legte er los – und er war ein echt guter Erzähler geworden mit der Zeit und mit der Übung:
- In der Geschichte geht es um Ziegen, die gerne Hörner hätten, die hatten sie nämlich noch nicht.
- Sie wendeten sich an den griechischen Obergott und baten ihn um Hilfe.
- Der sagte auch: Okay, geht klar, aber ihr müsst dann auch noch ein zweites Geschenk nehmen, das euch vielleicht nicht so gefällt.
- Aber sie dachten wohl: Kennen wir – wir schmeißen es einfach hinterher weg, wenn es uns nicht gefällt.
- Aber dann sahen sie zu ihrem Schrecken, wie ihnen nicht nur Hörner wuchsen, sondern auch ein sehr übel aussehender Ziegenbart. Den konnten sie jetzt nicht einfach loswerden.
Nachdem ich ihn für sein tolles Erzählen gelobt hatte, fragte ich ihn: „Was ist denn ganz allgemein eine Moral?“ Wusste er nicht sofort – aber da fiel mir was ein, was helfen konnte:
Es gibt doch den Spruch: „Und die Moral von der Geschicht…“
Sein Gesicht hellte sich auf und er meinte: „Na ja, die Lehre, was man daraus lernen kann.“
Mein Gesicht hellte sich auch auf – hatte geklappt. Wir waren einen Schritt weiter.
Jetzt also auf zu Schritt 2:
Was können die Ziegen denn aus dieser Geschichte lernen?
Nach kurzem Nachdenken kam: „Dass man nicht unbedingt etwas wollen soll. Es könnte auch Nachteile haben.“
Schon mal nicht schlecht – aber noch nicht die ganze Wahrheit.
Also versuchte ich es auf einem Umweg:
Stell dir vor, du möchtest unbedingt in einen neuen Film. Gehst du dann nicht hin, nur weil es Nachteile haben könnte. Zum Beispiel könnte der Film drei Stunden dauern und der Busverkehr auf der Kino-Strecke ist eingestellt – also eine halbe Stunde Fußmarsch.
Jetzt kam Eddy ins Grübeln – aber dann hatte er es: Ich kann doch nachschauen, ob es Probleme mit dem Busverkehr gibt.
Ich daraufhin: Und was ist mit den drei Stunden?
Aber auch da kam er drauf: Ich schau einfach im Internet nach.
So, jetzt hatten wir es. Also zurück zur Fabel und der Frage:
Und was haben die Ziegen falsch gemacht?
Und dann der zweite Erfolg:
„Sie haben Zeus nicht gefragt, was denn das zweite Geschenk sein würde.“
Ich klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und wollte mich meiner Arbeit wieder zuwenden.
Aber er ging nicht, sondern meinte: Wir sollen aber noch eine zweite Frage beantworten.
Und die wäre:
Hat die Fabel noch eine Bedeutung für uns heute?
Jetzt wurde es schwierig, denn jetzt musste man sich was einfallen lassen.
Ich dachte also über mein Leben nach und speziell über Situationen, in denen ich mal etwas bereut hatte, was sich erst mal fantastisch angehört hatte.
Und da hatte ich es:
Also Eddy, stell dir vor, du möchtest ein neues Handy – und du gehst in einen Laden und der Verkäufter sagt: „Klar, ich habe hier eins, das kostet nur 10 Euro und im Monat 5 Euro.“
Glücklicherweise hast du Lessings Fabel gelesen und … was machst du?
Eddy strahlend: „Ich frage ihn, wo der Haken ist.“
Ich sagte nichts – und es half, er dachte weiter:
„Es kann sein, dass die 5 Euro nur für eine gewisse Zeit gelten.“
Ich: Macht nichts, du kündigst dann, wenn es teurer wird.
Und tatsächlich: Er erkannte sofort: Wahrscheinlich hat der Vertrag zwei Jahre Laufzeit und am Ende habe ich viel mehr als 5 Euro im Monat bezahlt.
Jetzt kam es nur noch darauf an, das mit der Aktualität kurz zu formulieren.
Eddy verschwand und kam nach 10 Minuten wieder – und in seinem Heft stand:
„Die Fabel ist immer noch aktuell – denn es gibt immer wieder Wünsche, die man hat. Zum Beispiel ein neues Handy – für wenig Geld im Monat. Das bekommt man dann fast umsonst – und dann wundert man sich, wenn man einige Zeit später später pro Monat viel mehr bezahlt muss. Man hatte also genauso wie die Ziegen sich nicht genügend erkundigt.“
Schon wollten wir beide glücklich auseinandergehen, als Eddy sich an der Tür umdrehte und meinte: Was hältst du eigentlich davon, wenn ich ab jetzt deinen Rasen jede Woche mähe und das Gras hinterher auch wegschaffe.
Das war seit langem mein Herzenswunsch – aber dann fielen mir die Ziegen ein und ich fragte sicherheitshalber nach 😉
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- Kreativer Umgang mit einer Vorstufe zu Goethes „Erlkönig“ – in der geht es erst mal um Erlkönigs Tochter
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