Worum es hier geht:
Anders Tivag entdeckt als Deutschlehrer und Behelfsschriftsteller“ immer wieder etwas, was aus dem Unterricht kommt, aber weit über hin hinausführen kann.
Daraus macht er gerne einen Blogartikel und lässte andere an seinen Gedanken teilhaben – oder sie auch tüchtig kritisieren.
Wer den Artikel nicht (gleich) lesen, sondern lieber hören will, der hat hier dazu Gelegenheit:
Ansonsten kommt hier der Text:
Anders Tivag
Vom Idealismus zum Fatalismus: Lessings „Ringparabel“ und Büchners „Märchen“
Wir geben es zu. Wer uns kennt, der weiß, dass wir kein Freund der Ringparabel sind. Es hat uns immer gestört, wie Lessing in „Nathan der Weise“ von seinem Theaterkatheder aus herunterpredigt. Und die Botschaft ist: Wenn alle sich bemühen, dann gibt es einen edlen Wettstreit um den Spitzenplatz an Nettigkeit – oder sagen wir es mit den Worten des Richters:
„Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe nach! / Es strebe von euch jeder um die Wette, / Die Kraft des Steins in seinem Ring‘ an Tag / Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut, / Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, / Mit innigster Ergebenheit in Gott, / Zu Hülf‘!“
Dann ist der Streit der Religionen vorbei – sie haben sich weitgehend in Moral aufgelöst. Ein kleines Problem gibt es am Schluss. Da ist nämlich von „Gott“ die Rede – was für ein Pech nur, wenn viele Angehörige der drei Religionen nicht der Meinung sind, dass ihr Gott der gleiche ist wie der der anderen.
Aber lassen wir das: Lessing hat dran geglaubt, wenn auch mit einer stark aufklärerischen Naivität, die dann in den Katastrophen des 20. Jhdts. wohl endgültig verlorengegangen ist. Hat sich doch eine „Dialektik“ der Aufklärung herausgestellt, die neben dem Guten auch das absolut Böse hervorrief bis hin zum Bruch der Zivilisation.
Aber gab es nicht zu Lessings Zeit auch Sklavenhandel und wurde die Diskriminierung farbiger Menschen nicht noch lange danach fortgesetzt.
Halten wir fest: Mit dem Idealismus um 1800 war es anscheinend nicht weit her. Zwar hat Goethe in „Das Göttliche“ eine etwas realistischere Sicht auf Menschheit und Welt präsentiert – aber das hat wenig an der anthropologischen Wirklichkeit geändert.
Es war dann zum Beispiel Büchner ein paar Jahre nach dem Tod des letzten Großklassikers in Weimar, der in seinem Theaterfragment „Woyzeck“ eine fast schon kafkaeske Gegenparabel präsentiert. Da erzählt eine Großmutter ein „Märchen“ – und auch Nathan sieht seine Geschichte als „Märchen“, mit dem man Kinder abspeist. Vielleicht steckt da ja mehr Wahrheit drin, als gemeinhin im Unterricht darüber auftaucht.
Wie sieht es also bei Büchner aus:
Die Großmutter beginnt ganz im Stil der Gattung: „Es war eimal ein armes Kind …“ Das hat keinen Vater und keine Mutter und das Gefühl, dass niemand mehr auf der Welt ist. Von dieser Situation hätte auch Kafka ausgehen können.
Es folgen Hoffnungen in Traumform. Allerdings schaut der Mond nur freundlich und entpuppt sich als ein Stück faules Holz. Aus der Sonne wird eine „verreckte“ Sonnenblume – und die Sterne entpuppen sich als „goldene Mücken“, die an einen Vogelwürger erinnern, der seine Insektenopfer auf Schlehen aufspießt.
Also nichts wie zurück auf die Erde. Aber bei Kafka und denen, die seinen Blick auf die Welt haben, gibt es keine „Heimkehr“. Es ist wie bei Raumfahrern, die befürchten müssen, nach dem Ausflug zum Mars keine bewohnbare Erde mehr vorzufinden – knapp 80 Jahre nach Hiroshima werden Atomwaffen ja zunehmend wieder zu einem anscheinend ganz normalen Mittel, den Krieg doch noch zu Ende zu bringen – bleibt nur die Frage: zu welchem.
Jedenfalls bei Büchner ist die Erde nur noch ein „umgestürzter Hafen“, was zwar „Topf“ meint, aber auch deutlich macht, dass hier wohl so etwas wie ein „Heimathafen“ gesucht wird.
Natürlich wird nichts draus. Am Ende ist das Kind ganz allein und weint bis in alle Ewigkeit – denn offensichtlich steht es für den Menschen schlechthin und macht deutlich, worauf Propheten der Zukunft wie Büchner und Kafka sich beziehen.
Vielleicht hätten die Vertreter des Idealismus gut daran getan, sich um das „missing link“ zwischen Realität und Idealität zu bemühen – also das Bindeglied zwischen einer unzulänglichen aktuellen Realität und dem, was nach Goethe an „Göttlichem“ vielleicht wirklich in jedem Menschen steckt und nur Rahmenbedingungen braucht, um sich zu entfalten. Als Trost bleibt, dass man zumindest in seinem unmittelbaren Umfeld dafür sorgen kann, dass das fürchterliche kosmische Alleinsein zurückgebaut wird und zumindest ein Stück Erde wieder zum Hafen wird, in dem man wirklich „landen“ und leben kann.
- Übersicht über Texte von Anders Tivag
https://textaussage.de/anders-tivag-ein-schoenes-beispiel-fuer-einen-behelfsschriftsteller
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