Anders Tivag
Manchmal hilft „schreiben“ mehr als „studieren“
Letztens tauchte die Frage auf, ob es bei Gedichten auch ein „lyrisches Du“ gebe.
Wir haben uns mal rum gehört und von den Lehrkräften vom Fach gab es fast einhellig die Antwort: Nein, das gibt es nicht. Wenn da von einem Du die Rede ist, dann wird der Leser angeredet – das kennst du doch aus dem Barock.
Stimmt, kannte ich, überzeugte mich aber nicht. Denn ich hatte mal ein Gedicht von Gottfried Benn gelesen. In ihm beschrieb er die Situation eines lyrischen Ichs im Alter. Soweit ganz normal.
Und was dann an Beschreibungen des Tagesablaufs kam, war halt das, womit man sich in dieser Lebenssituation noch ein bisschen das Leben schön machen kann. Auch alles normal.
Aber mir war im Gedächtnis geblieben, dass das in der Du-Form präsentiert wurde – als scheinbare Anrede. Alles sprach aber dafür, dass das lyrische Ich hier sich selbst meinte.
Ich habe dann gedacht: Probier es doch einfach selbst mal aus – und lass es deine Schülerinnen und Schüler auch mal testen.
Das Gedicht von Gottfried Benn war nicht mehr aufzufinden – das machte aber nichts. Es war sowieso besser, die Schülis nicht mit Aussichten auf Rente und hohes Alter zu quälen oder auch zu erfreuen. Lieber eine Situation und Sprechhaltung, die sie nachvollziehen können. Natürlich nicht ihre eigene – da sollte sie ja selbst ran. Nein, ich machte das, was Behelfsschriftsteller am liebsten tun – sie erfinden einfach in diesem Falle ein lyrisches Ich und lassen es loslegen – voll gepackt natürlich mit eigenen Erfahrungen – nur etwas verfremdet. Schließlich wollen wir niemanden bloßstellen.
Ich habe es dann mal probiert, wie immer in dem Bewusstsein, dass meine Fassung nicht besonders gut sein musste oder gar durfte. Denn ich wollte ja motivieren, es selbst mal zu probieren, und nicht abschrecken.
Hier also das Gedicht – ohne Überschrift, aber mit lyrischem Du:
- Da hast du nun
- So viele Jahre unterrichtet
- Und fragst dich immer wieder
- Was hat es so gebracht.
— - Ach, Dank bekommst du selten
- Das Höchste der Gefühle
- Direkt nach ner Klausur
- „Hätt’ schlimmer kommen können.“
- —
- Doch manchmal kommt ein Lichtblick
- Und zwar so nebenbei..
- Du musst mal wieder tanken
- Und an der Säule dann das Glück
— - Ein früherer Schüler, souverän im Business Look
- Grüßt freundlich rüber und dann heißt es
- Nett, Sie zu sehen
- Ihr Unterricht war damals ne Oase
- Man hatte sogar Spaß
- Und konnte auch was ausprobieren.
— - Du freutest dich, dann trennte euch der Alltag.
- Jedoch – du nahmst was mit
- So manches wirkt erst später nach
- Und dient hier auch gutem Zweck
- Ich hatte Stoff für ein Gedicht
- Mit einem „lyr’schen“ Du.
— - Ob Dank mir wird
- Ich weiß es nicht.
- Man muss die Dinge reifen lassen
- Wie guten Wein – halt Stopp
- Das ist kein Thema für die Schule.
— - Vergessen wir – und schauen mal,
- ob man auch vor dem Abitur
- schon dichten kann als „lyr’sches“ Du.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Übersicht über Texte von Anders Tivag
https://textaussage.de/anders-tivag-ein-schoenes-beispiel-fuer-einen-behelfsschriftsteller
— - Infos, Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
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