Tipps zum Übergang von der Analyse eines Gedichtes zur Interpretation (Mat7177)

Worum es hier geht:

  • Wir wollen am Beispiel eines interessanten Herbstgedichtes zum einen den Unterschied zeigen
    • zwischen Analyse und Interpretation
    • dabei zunächst die Lenkungsgrenzen des Gedichttextes
    • zum anderen aber auch auf die Sinnschaffens-Spielräume hinweisen, die es bei der Interpretation gibt.

Der grundsätzliche Unterschied

  1. Unter Analyse verstehen wir die Zerlegung eines Gedichtes wie eines Stoffes im Chemieunterricht.
    Da bleibt man im Text, holt nur alles heraus, was in ihm liegt.
  2. Interpretation bedeutet demgegenüber die Erweiterung in mögliche Sinn- und Verständnisbereiche. Dabei darf man also über den Text des Gedichtes hinausgehen – muss allerdings in seinen Bahnen bleibt.
    Der Philosoph hat das mal so formuliert:
    „Lesen ist gelenktes Schaffen.“

    1. Das heißt: Man wird gelenkt vom Gedicht und muss seine Signalrichtungen beachten.
    2. Man darf allerdings als Leser auch über die Grenzen des Gedichtes hinausgehen – in Bereiche, die in seiner Richtung liegen.

Unser Gedichtbeispiel – zwischen Lenkung und Spielräumen

    1. Zufällig sind wir auf ein Gedicht aufmerksam gemacht worden, bei dem man das schön deutlich machen kann:
      Wir haben es bis jetzt nur
      hier
      gefunden – und würden uns freuen, wenn uns jemand den Verfasser nennt und eine andere Fundstelle.
  1. Aus Gründen des Urheberschutzes präsentieren wir hier nur die Passagen, die für die Signale des Textes wichtig sind.

Die Lenkungssignale

  1. bunte Blätter -> Herbst
  2. Signal für Abschied – interessanterweise mit ewig verbunden
    soll wohl die aktuelle Stimmung deutlich machen,
    auch wenn man weiß, dass der Frühling wieder Leben bringt.
  3. Verstärkt durch „Sterben“
  4. Dann Hinwendung zu dem besonderen Strahlen im Herbst
  5. Personifizierung des Herbstes in Richtung Frühlingserwartung
  6. Andeutung, dass die Natur mehr „weiß“ als der gerade aktuell trauernde Mensch
  7. Wieder Rückkehr zum aktuellen letzten Aufbäumen
  8. Betonung des Unaufhaltsamen
    Man merkt hier deutlich, wie hier zwei „Bewussstseins“-Ebenen sich gegenüberstehen
    – die kluge Natur, die die lebendige Zukunft kennt
    – und der Mensch in seinem akuten Gefühlsstau
  9. Bild der Flamme als Symbol für das Leben
  10. Ringen mit dem Schicksal
  11. Verbunden mit Hoffnung, was die Bedeutung (in diesem Falle) noch schmerzlich vergrößert
  12. Einbeziehung der Geschichte als Kern der Linearität des Lebens
  13. Rückblick auf traurige Ausgangssituation im Bild des Asphalts
  14. die schönen Farben nur als Kleid, Decke, Illusion
  15. Hinweis auf die Schicht da drunter = Probleme
  16. Hervorhebung der Tätigkeit des Begrabens, um es nicht mehr sehen zu müssen
  17. Bezeichnung als „trübe Realität“
    Hier wird also ein Gegensatz deutlich zwischen Realität und schönem Schein (?)
    Die Frage ist aber, ob das Schöne nicht mehr als Schein ist, nämlich die andere Sicht auf das Leben
    Vergleiche Eichendorff, „Wünschelrute“
    https://www.schnell-durchblicken2.de/romantik-aktualitaet
  18. Bedeutung der Erinnerungen als Hilfe beim Verdrängen der Gegenwart
  19. Rückkehr zur Ausgangssituation: Herbst und Straße
    Entwicklungsstufe 2 (nach 2 Wochen) nach der Anfangssituation
  20. Das am meisten Reale, der Asphalt bleibt
  21. hat allerdings die Farbe geändert
  22. Hinweis auf die Entwicklungstufe 2 nach einem Monat
  23. Zusammenfassung der
  24. harten Realität

Zusammenfassung: Das Gedicht zeigt

  1. Die Veränderungen im Herbst
  2. zunächst die besondere Leucht- und Widerstandsstufe gegenüber dem kommenden Wintersterben
  3. die Unterscheidung zwischen menschlich akutem Bewusstsein und einer Natur, die in größeren Gesetzmäßigkeiten denkt
  4. ein genaueres Eingehen auf ein Bewusstsein, das zurückblickt
    1. auf eine graue Ausgangssituation
    2. die dann kurzzeitig zugedeckt worden ist mit buntem Leben
    3. wobei Erinnerungen an Schönes eine große Rolle spielen
  5. dann eine abschließende Zusammenfassung der Entwicklung auf der Stufe der Realitätswahrnehmung
  6. am Ende eine Lücke, bei der man die Natur- und Hoffnungsseite dem entgegensetzen könnte
    Tipp für kreative Erweiterung
    Zum Beispiel, indem man die Nadelbäume wahrnimmt, die diesem Wechselspiel nicht so sehr unterworfen sind.
    Kurzzeitig beneidet man sie
    Am Ende dann die Vorfreude auf das nächste bunte Wechselspiel

Interpretation, an die wir nicht gedacht haben

Auf der genannten Seite fanden wir dann folgenden Hinweis, den wir hier in seinem Thesenkern zitieren und nur in seine Bestandteile zerlegen:

  1. „auf die Verstädterung und Verlust der Natur kann man das ganze auch gut beziehen.“
    Kommentar: Sehr schön, dass es zunächst ein Zugeständnis in Richtung Herbst-Naturgedicht-Interpretation gibt.
  2. „Für mich ging es eher so in Richtung Beziehungsprobleme (der graue Asphalt), die man sich versucht schön zu reden (bunte Blätter, die ihn verdecken) um es doch nicht beenden zu müssen.“
    Kommentar: Dann ein Hinweis, der uns auch von der Substanz des Gedichtes aus gesehen, als möglich erscheint. Entscheidend ist das „Für mich“ – denn das bedeutet, dass hier der Leser gewissermaßen auf den Artikel 1 des Grundgesetzes hinweist, das auch für die Literatur gilt:
    „Kunst entsteht im Auge des Betrachters“
    Eine gängige Formulierung – hier ein Hinweis auf eine antike Quelle des Gedankens:
    „„Schönheit liegt im Auge des Betrachters“ – diese Erkenntnis, die dem Griechen Thukydides (ca. 454 v. Chr. bis ca. 396 v. Chr.) zugeschrieben wird“.
  3. „Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass die Probleme noch da sind. Und das wird nach einem Monat sichtbar, wenn die Blätter eben zu Staub zerfallen sind.“
    Kommentar: Am Ende die selbstkritische im Sinne von „sich selbst absichernde“ Rückbeziehung auf die primäre Lenkungsrichtung des Textes.

Fazit mit einer Bitte an alle Teilnehmer des Deutschunterrichts:

  1. Betrachtet bitte Gedichte u.a. literarische Texte nicht als Materie, die man nach festen Richtlinien zu analysieren hat – mit letztlich eindeutigem Ergebnis.
  2. Sondern betrachtet sie als Eröffnung eines letztlich unendlichen Bedeutungsspiels
    (vgl. https://textaussage.de/endlich-durchblick-literaturepoche-romantische-ironie)
  3. Aber achtet auch darauf, dass man mit seinen Ideen das Verständnis des Gedichtes bereichert – und nicht nur die eigene Fantasie. Bleibt also in den Lenkungsbahnen des Gedichtes, nehmt die dort angegebenen Richtungen ernst, aber baut sie aus – und freut euch, wenn andere das zumindest nachvollziehen können.

    Und bei Klassenarbeiten und Klausuren sichert euch methodisch ab, indem ihr
    – deutlich macht, was euch sicher erscheint und wozu jeder stehen muss.
    – und dem, was ihr als Sinn-Ideen habt, die man gut begründet,
    – die aber andere wohl nachvollziehen können, aber nicht übernehmen müssen,
    – weil da eben der „konnotative“ Bereich der Sprache beginnt, also das, was (nur) individuell verstanden wird.
    https://textaussage.de/sprachliche-sichtweisen-denotation-konnotation

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