Anders Tivag, „Wenn Jakob van Hoddis Franz Kafka getroffen hätte“ (Mat5952)

Worum es hier geht:

Man hat sich gerade mit Kafkas Parabeln beschäftigt und wechselt jetzt zum Expressionismus.

Um gleich richtig anzufangen, präsentiert man den Schülis „Weltende“ von Jakob an Hoddis.

Zu finden ist es z.B. hier.

Jakob van Hoddis

 Weltende

  1. Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
  2. In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
  3. Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
  4. Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
  5. Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
  6. An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
  7. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
  8. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Da meldet sich ein Schüli und meint: „Da geht es doch ab wie bei Kafka. Wollten wir nicht was Neues machen?“

Die Lehrkraft überhört den zweiten Satz, weil der erste sie voll trifft, regelrecht Experimentierlust auslöst.

Mit einer kurzen Bemerkung gelingt es, die Sache auf die nächste Stunde zu vertagen. Allerdings geht das nur über das später doch leichtfertig erscheinende Versprechen, mal eine Umwandlung des Gedichtes im Stil Kafkas zu versuchen.

Und tatsächlich es klappt: Man beginnt so, wie die kurzen Erzählungen von Kafka beginnen – und schon merkt man, wie Bruchstücke aus anderen Texten von ihm sich zu etwas Neuem zusammenfügen. Man muss nur das Gedicht im Auge behalten – dann kommt man Zeile für Zeile bei der Abarbeitung weiter.

Sicherheitshalber fügt man noch eine Überschrift hinzu, die eine Art Disclaimer darstellt – nach dem Motto: Bitte jetzt nicht annehmen, dass sich hier jemand mit Kafka vergleichen will – aber man wird ihm ja wohl mal in gebührendem Abstand folgen dürfen.

Anders Tivag

 Versuch, Franz Kafka zu folgen  –
natürlich in gebührendem  Abstand

  1. Als er an diesem Morgen nach einem ausgiebigen Frühstück das Haus verließ, war ein seltsames Rauschen in der Luft, das sich immer mehr zu einem infernalischen Lärm steigerte. Die Leute trugen alle seltsame Hüte, als wollten sie sich verkleiden, nicht erkannt werden, einem kommenden Unheil vielleicht entgehen?  Es half nichts, die Hüte flogen ihnen von den Köpfen – und eine dieser spitzen Kopfbedeckungen  wurde vom Wind hochgehoben, flog einem Dachdecker entgegen, der mit wedelnden Armen vom Dach fiel und sich dabei auf seltsame Weise aufzulösen erschien.
  2. Jetzt schien es ihm doch an der Zeit, sich auch selbst aus dem Staube zu machen.
  3. Tatsächlich bog in diesem Moment eine Straßenbahn um die Ecke, auf der vorne in großen Buchstaben „Strandbad“ stand. Ohne Zögern stieg er ein, auch wenn der Fahrer ihm mit abwehrenden Gesten davon abriet. Er konnte aber mehr nicht tun, denn er musste sich im schaukelden Wagen regelrecht am Steuer festkrallen.
  4. Es wurde zunehmend dunkel – und je mehr sie sich der Küste näherten, desto mehr nahm ein unheimliches Grollen zu. Schließlich sah er, wie einzelne Wellen  schon die Stranddeiche überspülten. Wie lange würden sie halten?
  5. Aber er hatte keine Zeit darüber nachzudenken, denn sein Schnupfen, der ihn seit dem Vortag zunehmend quälte, schien sich mit der Gischt, die die Luft erfüllte, zu vermischen. Es schüttelte ihn regelrecht – und bald hatte er das Gefühl, dass der Straßenbahnwagen und er eine Art Tanz vollführten, während der Fahrer ein seltsames Lied anstimmte.
  6. Das Letzte, was er sah,
    war ein Zug, dessen Wagen sich einzeln langsam auf der großen Seebrücke voneinander lösten, als wollten sie endlich allein sein.
  7. Das Letzte, was er hörte,
    war der Ruf des Fahrers „Hals und Beinbruch“ – und ihr Wagen nahm das auf seltsame Weise auf, hob sich in die Lüfte – und alles vereinigte sich zu einem großen Ganzen, das sie aufnahm und dem sie sich ergaben. Nicht unbedingt freudig, aber auch ohne einen Anflug von Verzweiflung. So war es wohl, wenn alles am Ende seines Weges angekommen war.

Wer mal etwas ausprobieren möchte

Hier eine Druckvorlage, bei der man den Verfasser mal weggelassen hat.

Vielleicht gibt es ja jemanden, der so etwas Kafka zutraut 😉

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