Schnell durchblicken: Juli Zeh, „Corpus delicti“, Kap 1-5 (Mat2257-1)

Worum es hier geht:

Julie Zeh, „Corpus delicti“ – schneller Überblick über den Inhalt mit Schlüssel-Textstellen

  • Es gibt viele Gründe, ein literarisches Werk kurz und übersichtlich vorzustellen.
  • Meistens geht es dabei nur um den Inhalt.
  • Wir wollen hier aber zugleich auch wichtige Textstellen präsentieren.
  • Daraus ergeben sich nämlich auch schon erste Interpretationsansätze.
  • Noch wichtiger ist uns die Frage: Was fangen wir mit solchen Textstellen an? Worüber lässt sich diskutieren?

Fragen zum Text stellen wir auf der folgenden Seite zusammen:

https://www.einfach-gezeigt.de/corpus-delicti-fragen

  • Die Seitenangaben beziehen sich auf die E-Book-Ausgabe des Romans, die zum Beispiel hier zu bekommen ist.
  • Zum Teil gibt es auch nur „Positionsangaben“, die man dann mit der eigenen Ausgabe „verrechnen“ muss.
  • Die letzte Seite hat auf auf jeden Fall die Nummer 250.

Wir haben die Vorstellung des gesamten Romans auf handliche Teilseiten zerlegt.

Hier die Gesamtübersicht:

Kap1:

„Das Vorwort“ mit seinem totalitären Ansatz persönlicher und gesellschaftlicher Vollkommenheit

  • In dem fiktiven Vorwort eines angeblich von dem politisch sich voll ins System einfügenden Journalisten Heinrich Kramer wird ein totalitäres Ziel für jeden Einzelnen und die Gesellschaft insgesamt entworfen, das dem Staat das Recht und die Möglichkeit gibt, jeden Menschen bis in die letzten Einzelheiten hinein zu kontrollieren. Sich andere Ziele zu setzen reicht schon, um als krank zu gelten.
  • Fiktives Vorwort eines angeblich bereits in 25. Auflage erschienenen Werkes mit dem verräterischen Titel „Gesundheit als Prinzip staatlicher Legitimation“.
  • Das heißt: Gesundheit ist keine Frage individueller Entscheidungen, sondern anscheinend die einzige oder wichtigste Grundlage des Staates – mit erheblichen Folgen für das Bedürfnis und das Recht des Staates auf den Einzelnen einzuwirken – ihm also letztlich seine Freiheit zu nehmen, ständiger Kontrolle und Bevormundung auszusetzen.
  • „Gesundheit ist ein Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“
  • Das klingt schon nach Paradies und macht den quasireligiösen Charakter dieser Zielvorstellung deutlich.
  • „Gesundheit will täglich erhalten und gesteigert sein“
  • Wer sich diesem Ziel unterwirft oder unterwerfen muss, ist ganz schön beschäftigt. Nichts mehr von dem, was man früher mal „Muße“ genannt hat. Mit dem Begriff lohnt es sich im Gegenzug mal zu beschäftigen.
  • „Gesundheit ist nicht Durchschnitt, sondern gesteigerte Norm und individuelle Höchstleistung.“
  • Hier noch mal der sportliche Ansatz – und zwar nicht im Sinne von Breitensport, sondern im Sinne zwanghaft angestrebter Leistung und Selbstoptimierung.
  • Man fragt sich, was aus der klassischen Idee der „Bildung“ als Selbstvervollkommnung des Menschen im weitesten Sinne geworden ist.
  • „Gesundheit führt über die Vollendung des Einzelnen zur Vollkommenheit des gesellschaftlichen Zusammenseins.“
  • Hier haben wir es: Es geht vom „Vollendung“ – ein Wort, das den perfekten Endzustand einer Daueranstrengung markiert. Dazu der in der Praxis sicher von vielen als Zumutung empfundene Anspruch, dass so etwas wie Vollkommenheit auch im gesellschaftlichen Miteinander anzustreben ist.
  • Hier lohnt es sich, sich mal nach geschichtlichen Versuchen umzusehen, Vollkommenheit in der Gesellschaft zu erreichen.
  • Auch im Schlussbild von Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“ geht es um die – allerdings sehr fragwürdige – Vollkommenheit zumindest der Güllener Stadtgesellschaft – mit fatalen Folgen für den „Sündenbock“ Ill, dem man alles an Schuld auflädt und mit ihm vernichtet.
  • Überhaupt ist die Schattenseite jeder Vollkommenheit der, der sie stört – und sei es auch nur, weil er sie noch nicht erreicht hat.
  • Anregung: Man könnte mal recherchieren, warum der sowjetische Staat Dissidenten, also Andersdenkende, eher in Heilanstalten einsperrte als ins Gefängnis. Schon der französische Philosoph Rousseau hatte das Ideal einer bürgerlichen Religion vor Augen und sah die Möglichkeit vor, Abweichler im wahrsten Sinne des Wortes zu „kurieren“, also zwangsweise gesund zu machen.

Kap2:

„Das Urteil“

  • Hier wird auf die Schluss-Situation vorgegriffen
  • und es wird am Beispiel der Protagonistin, der Biologin Mia Holl, deutlich, was am Ende der staatlichen Kontrolle und Repression steht, nämlich das „Einfrieren auf unbestimmte Zeit“ (Pos. 91)

Kap 3:

„Mitten am Tag, in der Mitte des Jahrhunderts“

  • Schon die Überschrift präsentiert zwei Akzente, nämlich die Normalität dessen, was hier in einem Amtsgericht verhandelt wird, zum anderen die Zeitperspektive, die jedem Leser klar macht, wie sehr ihn das auch noch betreffen kann – direkt oder über seine Angehörigen bzw. Freunde.
  • Zu Beginn wird eine Art Umweltparadies geschildert.
  • Es folgen dann „Güteverhandlungen“ (Pos. 109) – George Orwell hätte das auch gut in sein Neusprech aufnehmen können. Es ist die scheinbare Freundlichkeit und Güte, die bestimmte Formen von Diktatur auszeichnet und jeden Widerstand, jeden Kampf für ein Gesellschaftsmodell möglichst weitreichender persönlicher Freiheiten,  erschwert, wenn nicht aussichtslos erscheinen lässt.
  • Die im Sinne dieses Systems gütig zu Behandelnden sind jeweils umfassend durchleuchtet und bekommen scheinbar positive Korrekturhilfen für ihren Lebensweg – von der „schriftlichen Verwarnung“ bis hin zu zwei Jahren „offener Maßregelvollzug“ und „Einsetzen eines medizinischen Vormunds“ für die vernachlässigte kleine Tochter.
  • Interessant, wie früh im Roman dann mit Heinrich Kramer nicht nur der Verfasser des Vorworts präsentiert wird, sondern auch ein überaus selbstbewusster, ja fast selbstherrlicher Vertreter der „vierten Gewalt“, nämlich der Presse.
  • Am Ende geht es dann um die Biologin, deren End-Urteil schon präsentiert worden ist und die in diesem Stadium noch mit einer „Einladung zum Klärungsgespräch“ (S. 5) davonkommt.
  • Vor dem Hintergrund des schon bekannten End-Urteils kann Kramers Schluss-Hinweis, er befinde sich noch „ganz am Anfang“ nur als Drohung verstanden werden.

Kap 4:

„Pfeffer“

  • In diesem Kapitel geht es um die Situation der Menschen – allerdings einer ganz bestimmten privilegierten Gruppe.
  • Es geht um ein sogenanntes „Wächterhaus“ (S. 8) , in dem die Menschen sich selbst kontrollieren dürfen und dann entsprechende Vorteile bekommen.
  • Ausgangspunkt ist der kleine Alltagsterror, wenn man ein Niesen aus dem Kinderzimmer hört und dann einen Absturz aus gesundheitlicher Vollkommenheit befürchtet.
  • Dann hat die Kleine aber nur geniest – und es wird aufgeatmet. Immerhin iste man „fast krank geworden vor Angst“ (7).
  • Schließlich erscheint noch der Journalist Heinrich Kramer und fragt nach dieser Frau Holl, die eben im Amtsgericht noch mit einem Klärungsgespräch davongekommen ist und von der er mehr weiß und noch mehr wissen will.

Kap 5 (S. 11ff):

„Die ideale Geliebte“

  • Die Hauptfigur des Romans notiert sich Gedanken und Erinnerungen an ihren Bruder Moritz.
  • Auch das erinnert an George Orwells Helden, der ja auch heimlich ein Tagebuch führt und damit so etwas wie eine private Existenz noch versucht aufrechtzuerhalten.
  • Interressant ist die Installation einer besonderen Figur, die ja auch im Titel des Kapitels auftaucht. Diese „ideale Geliebte“ ist eine Fantasiefigur, die der Heldin die Möglichkeit einer vertraulichen Kommunikation gibt in einer total überwachten Welt.
  • Die scheint aber auch nötig zu sein, weil Mia „das Leben so sinnlos“ findet. Ein Ausweg für sie ist künstlerisches Gestalten – und dazu gehört auch diese „ideale Geliebte“.
  • Deutlich wird, dass es sich bei dem Bruder Moritz um einen Individualisten handelt, dessen Vorlieben so aufgezählt werden, dass sich am Ende ein bezeichnender Höhepunkt ergibt:
  • „Er wollte für die Liebe leben, und wenn man ihm zuhörte, konnte man auf die Idee kommen, dass Liebe schlicht ein anderes Wort war für alles, was ihm gefiel. Liebe war Natur, Freiheit, Frauen, Fische fangen, Unruhe stiften. Anders sein. Noch mehr Unruhe stiften. Das alles ist bei ihm Liebe.“ (12)
  • Sehr nachdenklich kann das stimmen, was Moritz als Entwicklung so vorstellt: „Erst hat die naturwissenschaftliche Erkenntnisse das göttliche Weltbild zerstört und den Menschen ins Zentrum des Geschehens gerückt. Dann hat sie ihn dort stehen lassen, ohne Antworten, in einer Lage, die nichts weiter als lächerlich ist.“ (12)
  • Im Schlussteil des Kapitels wird dann deutlich, wie sehr Mia ihren Bruder vermisst. Sie hat ihn auf ihre ganz eigene Weise geliebt und tut das immer noch. Deshalb das Tagebuch: „Ich muss das aufschreiben. Ich muss ihn aufschreiben. Das menschliche Gedächtnis sortiert 96 Prozent aller Informationen nach wenigen Tagen aus. vier Prozent Moritz sind nicht genug. Mit vier Prozent Moritz kann ich nicht weiterleben.“ (12)
  • Hier meldet sich nun die „ideale Geliebte“, bietet Mia ihre Arme an – und genau in dem Moment klingelt es an der Tür.

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