Schnell durchblicken: Juli Zeh, „Corpus delicti“, Kap 27-31 (Mat2257-6)

Worum es hier geht:

Julie Zeh, „Corpus delicti“ – schneller Überblick über den Inhalt mit Schlüssel-Textstellen

  • Es gibt viele Gründe, ein literarisches Werk kurz und übersichtlich vorzustellen.
  • Meistens geht es dabei nur um den Inhalt.
  • Wir wollen hier aber zugleich auch wichtige Textstellen präsentieren.
  • Daraus ergeben sich nämlich auch schon erste Interpretationsansätze.
  • Noch wichtiger ist uns die Frage: Was fangen wir mit solchen Textstellen an? Worüber lässt sich diskutieren?

Fragen zum Text stellen wir auf der folgenden Seite zusammen:

https://schnell-durchblicken.de/julie-zeh-corpus-delicti-fragen-zum-roman

  • Die Seitenangaben beziehen sich auf die E-Book-Ausgabe des Romans, die zum Beispiel hier zu bekommen ist.
  • Zum Teil gibt es auch nur „Positionsangaben“, die man dann mit der eigenen Ausgabe „verrechnen“ muss.
  • Die letzte Seite hat auf auf jeden Fall die Nummer 250.

Wir haben die Vorstellung des gesamten Romans auf handliche Teilseiten zerlegt.

Hier die Gesamtübersicht:

Kap 27 (S. 112ff) Ambivalenz

zu Beginn des Kapitels charakterisiert der Erzähler Mias Verhältnis zu Kramer als „ambivalent“ (112) und bezeichnet den Begriff erstaunlicherweise als „Lieblingswort der Ratlosen“. Das ist natürlich nur eine Variante der Verwendungsmöglichkeiten. Genauso gut kann man es als zutreffende Bezeichnung eines komplexen Zustandes verwenden.

  • Im weiteren Verlauf wird dann allerdings deutlich, dass es sich hier eher um unklare Gefühle als um unklare Situationen handelt, wenn es von Mia heißt: „da dachte sie sogar für einen kurzen Moment, dass sie ihn lieben könnte.“
  • Aufschlussreich ist die Erklärung für dieses Gefühl der Verbundenheit: Was Mia nämlich „ins Mark fuhr, war seine Fähigkeit, eine Tasse auf eine Weise zu reichen, als nähme er eine heilige Handlung vor. In der Hingabe an einen so unscheinbaren Gegenstand zeigt sich eine Unbedingtheit  im Umgang mit der Welt, die Mia, wenn sie ehrlich ist, bewundert. Kramer tut alles ganz: gehen, stehen, reden, sich kleiden – ganz. Er denkt und spricht mit einer Rücksichtslosigkeit, die darauf verzichtet, der ewigen Unentschiedenheit des Menschen auf dialektische Art zur Legitimation zu verhelfen. Wer offen zugibt, dass Glauben und Wissen für ein beschränktes Wesen wie den Menschen dasselbe sind; wer fordert, dass sich die Wahrheit deshalb der Nützlichkeit zu ergeben habe – der muss wohl ein Nihilist in Reinkultur sein.“ (113)
  • Für Mia dagegen gilt: Auch sie ist Nihilistin, nur dass die Abwesenheit einer objektiven Wahrheit bei ihr nicht zur Unbedingtheit, sondern zu quälen der Haltlosigkeit führt.“ (113)
  • „vor langer Zeit ist mir zu der Erkenntnis gelangt, dass die Persönlichkeit eines Menschen vor allem aus Rhetorik besteht, aber anders als Kramer hat sie es nicht für nötig befunden, weitere Schlüsse daraus zu ziehen. Im Grunde wähnt sie Kramer und sich selbst aus ähnlichem Holz geschnitzt, nur dass er an einem Punkt, an dem Mia angehalten hat, einfach weitergegangen ist.“ (113)
  • Wie anders Mia zu diesem Zeitpunkt bei allem Verständnis und bei aller Sympathie für Kramer noch ist, zeigt sich, wenn sie im Hinblick auf ihn einfach mal „wie beim Schach die Farbe wechseln“ würde. „Dann wäre Kramer keine Ikone der Unbedingtheit, sondern bloß ein mächtiges Streben mit einer leeren Mitte. Ein Schnüffler. Eine lächerliche Figur.“ (113)

Kap 28 (S. 116ff) „Ohne zu weinen“

  • In diesem Kapitel wird im Rückblick der Moment geschildert, wie Mia mitten in der Nacht von Moritz erfährt, dass er das Mädchen, mit dem er sich treffen wollte, nur tot aufgefunden hat.
  • Interessant ist, wie diese ungeheuerliche Situation gestaltet wird:
  • Da ist zunächst einmal das nicht enden wollende Klingeln.
  • Dann ist da dieser abrupter Übergang von der erwarteten Erzählung zum realen Bericht.
  • Nicht ganz überzeugend ist das, was Moritz sagt zu seinen Erwartungen an das Treffen und dem Bericht danach mit der Realität:
    „Ist das nicht verrückt? Wäre sie noch am Leben gewesen, könnte ich jetzt wahrscheinlich einen ganzen Roman erzählen. So aber gibt es erstaunlich wenig zu sagen.“ (116)
  • Wichtig ist dann noch die Selbsteinschätzung von Mia als Rationalistin, die nicht gerade jetzt in dieser Situation das Gegenteil zeigen möchte. Man fragt sich, was dahinter steckt.
  • Sehr überzeugend gestaltet ist der Gegensatz der Kontexte zwischen Mia, die sofort ganz sachlich nach der Reaktion der Polizei fragt, und Moritz, der im vollen Bewusstsein seiner Unschuld diese Frage für völlig nebensächlich hält.
  • Bemerkenswert auch der Gegensatz am Schluss: Während Moritz Mias Wohnung alles andere als sein aktuelles Zuhause empfindet, versucht Mia das noch einmal bei ihm zu erwecken.

Kap 29 (S. 116ff) „Unser Haus“

  • Als es zum zweiten Mal stürmisch schellt, ist sehr viel Zeit vergangen, die hier ausgeblendet wird. Offensichtlich ist Mia so geschockt gewesen, dass sie die Zeit vergessen hat.
  • Im folgenden wird deutlich, dass die Mitbewohner im Haus Angst um ihren Status als Wächterhaus haben.
  • Deshalb fordern zwei der drei Mitbewohner, dass Mia den „Standort“ wechselt (man achte hier auf die Formulierung).
  • Nur die dritte sieht das etwas anders. Sie scheint etwas einfach gestrickt zu sein, was sie natürlicher und menschlicher erscheinen lässt. Eine sehr interessante Frage, ob ein Mehr an Intellektualität möglicherweise ein Weniger an Menschlichkeit mit sich bringt.
  • Mia wird schließlich wütend, tritt auf die Mitbewohner zu, woraufhin die fluchtartig den Ort verlassen und dabei sowohl das Schreiben der Behörde als auch die Ausgabe der Tageszeitung zurücklassen.
  • Deutlich wird hier auf jeden Fall, dass der diktatorische Druck nicht nur vom System selbst ausgeht, sondern auch – induziert durch seine Regelungen – von den Mitmenschen, die sich selbst nicht in Gefahr bringen wollen oder Angst um ihre Privilegien haben.

Kap 30 (S. 124ff) „Bedrohung verlangt Wachsamkeit“

  • Es geht um einen Kommentar von Kramer:
    „Die Gefährdung unseres Landes durch radikale Wiederstandsgruppen erhöht sich von Tag zu Tag.“
  • Interessant der Hinweis auf Menschen, „die einen völlig unverdächtigen Lebenswandel führen und auch die Bereitschaft in sich tragen, auf gewalttätige Weise gegen die Methode und damit gegen jeden einzelnen von uns zu kämpfen.“
  • Da diese Wiederstandskämpfer „aufgrund der Tarnung in alltäglichen Lebens- und Arbeitswelten schwer zu erfassen“ sind und die konkreten Inhalte von Bedrohungen „aus methodenschutzrechtlichen Gründen“ einer „Informationssperre“ unterliegen kann man von der Seite der Regierung aus leicht die Gefahr eines Angriffs mit biologischen Waffen behaupten, ohne das belegen zu müssen. Es geht um die Herstellung von diffuser Angst und um die Spaltung der Bevölkerung.
  • Was die „mutmaßlichen Urheber und Hintermänner“ der Bedrohungslage angeht, wird auf den „Tod des 27-jährigen Studenten Moritz Holl“ verwiesen, der sich „durch Selbstmord dem weiteren Zugriff der Behörden entzogen“ habe.
  • Der Hinweis auf eine schwere Krankheit und ein ungewöhnliches Verhalten als Kind soll erklären, was der Sicherheitsminister auf einer Pressekonferenz behauptet hat: „Die Frage ist nicht, ob die schmutzige Bombe platzt, sondern nur wann“.
  • „Zivile Wachsamkeit ist gefragt“. Das ist die Konsequenz des Artikels und bedeutet damit den Wunsch nach Unterstützung der staatlichen Repressionen durch das Mitmachen der Bürger.

Kap 31 (S. 127ff) „Die Zaunreiterin“

  • In diesem Kapitel geht es um die Auseinandersetzung zwischen der idealen Geliebte, die den Zeitungsartikel vorgelesen hat, und Mia.
  • Zunächst geht es um die „Dreistigkeit“ Kramers, dann aber macht die Geliebte Mia deutlich, dass es auch als ihre „persönliche Anklageschrift“ verstanden werden kann. Sie verweist damit auf das „Ende deiner Anonymität“.
  • Ihre Konsequenz ist der Vorschlag, dass Mia die hexenartige Zwischen-Situation des „Sowohl als auch“ aufgibt und damit zugleich auch ihre „Angst“.
  • Mia erkennt das an:
    „Manchmal kommt es vor, dass jemand auf gewaltige Weise Recht hat und dass dieses Rechthaben jede Antwort überflüssig macht. Es unterbricht den ewigen Kreislauf des Einerseits-Andererseits. Eine geradezu himmlische Ruhe tritt ein.“
  • Im weiteren Verlauf macht die Geliebte Mia deutlich:
    „Wer keine Seite wählt […] ist ein Außenseiter.“
  • Und die werden für die Macht schnell zu einem „Exempel, um ihre Stärke unter Beweis zu stellen“.
  • Als Bild wird „Fallobst“ verwendet, was nicht ganz überzeugt.
  • Als Mia sich gegen die Bezeichnung Außenseiter wert, erklärt die Geliebte:
    „Tief in deinem Herzen bist du der Meinung, dass der Umgang mit anderen Menschen Zeitverschwendung ist. Mit wenigen Ausnahmen, von denen die eine Hälfte tot und die andere dein Todfeind ist. Das reicht fürs Außenseitertum.“
  • Im Anschluss daran geht es um die Frage der „Normalität“, die mit einem „zweischneidiges Schwert“ verglichen wird. „Solange man dazugehört, dient dieses Schwert der Verteidigung. Befindet man sich draußen, stellt es eine schreckliche Bedrohung dar. Es macht krank.“
  • Mia wird klar, dass sie tatsächlich ein Problem mit anderen Menschen und mit der Öffentlichkeit hat:
    „Meistens hofft sie, von niemandem bemerkt zu werden.“
  • Interessant der Vergleich von Mia und Moritz: Die ideale Geliebte behauptet nämlich, „dass Mia genau wie Moritz ist. Nur dass Mia versucht, ihr Anderssein hinter besonderer Systemtreue zu verstecken, während Moritz es wie eine Trophäe zur Schau getragen hat.“
  • Und damit sitzt sie auf dem Zaun wie die Hexe. Mira versucht sich dann noch etwas zu retten:
    „Man kann sich seinen Platz im Leben nicht aussuchen. Man bringt nur die Bretter mit. Das Gehäuse, in dem man seine Tage verbringt, Zimmer an die anderen.“
  • Daraufhin wird sie konfrontiert mit der Tatsache: „Man kann Täter sein – oder Opfer. Mia dazu: „Ich finde beides unerfreulich.“
    Sie erkennt die Situationsanalyse offensichtlich an, weicht ihr aber zugleich in den Ausdruck reiner Befindlichkeit aus.

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