Früchte des Zorns – oder: Wie spontaner Ärger zu einer Chance für den Deutschunterricht werden kann (Mat1098)

 

Worum es hier geht:

Früchte des Zorns – oder: Wie spontaner Ärger zu einem guten Anstoß für den Deutschunterricht werden kann

  • Auslöser für Frust und Ärger beim Umgang mit literarischen Texten
    Wer kennt das nicht? Da soll man sich mit einem Gedicht oder mit einer Kurzgeschichte auseinandersetzen – und man versteht erst mal gar nichts. Oder aber der Text beginnt so seltsam, dass man sich fragt: Muss das wirklich sein? Warum hat der Dichter das nicht für sich behalten.
  • Das Gute an Frust und Ärger bei literarischen Texten
    Wir sind selbst auch Deutschlehrer, kennen aber auch diese Probleme und: sehen sie einfach mal positiv. Kunst entsteht doch im Auge des Betrachters, wie es so schön heißt. Warum soll Kunst nicht auch aus spontanem Ärger entstehen.
  • Mit Kunst meinen wir erst mal das süße Gefühl, dass wir dem Dichter wirklich nachweisen können, dass es da Probleme in seinem Text gibt.
  • Plädoyer für einen Literaturunterricht erst mal ohne Germanistik
    Natürlich wissen wir, dass kluge Germanisten, das sind die Fachleute für deutsche Literatur, für alles eine Erklärung finden – und wenn sie auch heißt: Der Dichter hatte da gerade seine wahnhafte Phase 😉
  • Aber das ist uns auch völlig egal, denn wir finden, Gedichte und Kurzgeschichten, die werden nicht für Germanisten geschrieben, sondern für ganz normale Leser.
  • Also haben wir auch ein Recht auf ein vielleicht nicht optimales Verständnis, aber eins, das halt für einen normalen Leser auch normal ist.
  • Und wenn wir uns dann auch noch ärgern, dann lassen wir das erst mal raus.
  • Ärger kann aber immer nur der ersten Schritt sein
    Aber dann sind wir auch ein bisschen fair oder einfach nur vernünftig und versuchen genauer herauszubekommen, ob unser Ärger wirklich berechtigt ist.
  • Beispiel für Ärger, der am Ende zu einem guten Erkenntnisziel führte
    Im Folgenden spielen wir das einfach mal an einer kurzen Erzählung durch. Sie ist von Wolfdietrich Schnurre und hat den schönen Titel „Der Absprung“. Entstanden soll sie im Jahre 1959 sein.
  • Da der Mann, von dem wir übrigens einige schöne Geschichten gelesen haben, noch keine 70 Jahre tot ist, achten wir mal sein Urheberrecht und gehen auf den Text nur indirekt ein:
  • Inhalt 1:
    Am Anfang stellt der Erzähler fest, dass sie in die falsche Bahn eingestiegen sind. Wichtig ist dann, dass es nichts gab, an dem sie ihren Fehler erkennen konnten, sogar der Zielbahnhof war richtig angegeben.
  • Als Leser fragt man sich da natürlich, wieso es dann die falsche Bahn war, aber das ist wohl von einem späteren Zeitpunkt aus geschrieben und dann auch in Ordnung. 
  • Inhalt 2:
    Seltsam sind allerdings die anschließenden Überlegungen des Erzählers: „Vielleicht wäre es einem aufgefallen, hätte man unterwegs den Wagen bestiegen und nicht an der Anfangsstation, wo die Freude über den gewonnenen Platz alle Vorsicht vergessen lässt.“
  • Dieser Satz wirkt unsinnig, denn wieso sollte einem das eher auffallen, wenn man unterwegs den Zug besteigt. Richtig ist natürlich, dass große Freude dazu führen kann, dass man unvorsichtig ist. Nur, warum soll man vorsichtig sein, wenn man wenn doch alles stimmt. Und warum sollte man sich bei einem Zwischenbahnhof nicht genauso über einen freien Platz freuen – bzw. sogar noch mehr, denn am Startbahnhof sind meistens eher noch Plätze frei als kurz vor dem Hauptziel. 
  • Inhalt 3:
    Dann wird es aber noch seltsamer: Der erste Teil des Satzes ist ja noch in Ordnung:
    „Aber sie hält nicht, diese Elektrische …“ ; Wir haben es selbst mal erlebt: Der Bus hielt nicht an einer Haltestelle an – schon denkt man: „Werden wir entführt?“
    Aber dann behauptet der Erzähler doch allen Ernstes:
    wir sehen es ja: zu immer maßloseren Umdrehungen verleiten die blank gescheuerten Schienen die rasenden Räder.“
    Wie bitte? In der Bahn sitzend können sie die Räder sehen? Selbst die Schienen sieht man normalerweise nicht, wenn man im Zug sitzt.
    Aber auch psychologisch stimmt das gar nicht: wenn jemand feststellt, dass die Bahn plötzlich von ihrem Fahrverhalten her sich ungewöhnlich verhält, dann denkt man nicht an die Räder, sondern an mögliche Ursachen.

    Die nächsten Eindrücke kann man durchaus nachvollziehen, denn es geht um „Hausfronten“ und „Straßen und Plätze“, die sich verwischen bzw. einem regelrecht entgegenstürzen. 
  • Inhalt 4:
    Dann aber wird es ganz plötzlich philosophisch:
    „Vorbei; unbewältigt, auf ewig ver worren bleibt das Vergangene zurück.“
    Das ist natürlich ein völliger Bruch im Erzählen, es ging doch gerade darum, dass sich gewissermaßen Panik ausbreitete. Wer erzählt hier eigentlich: Der wahrscheinlich ängstliche Fahrgast? Oder werden wir jetzt mit dem Zaunpfahl darauf aufmerksam gemacht, dass es sich hier gar nicht um einen realen Vorgang, sondern um eine Geschichte handelt, in der auf bildhafte Weise das Schicksal der Menschheit verdeutlicht wird?Näheres zur Parabel auf der Seite:
    https://www.schnell-durchblicken.de/durchblick-auch-in-deutsch/fragen-und-antworten/parabel/

     

  • Inhalt 5:
    Vorbemerkung:
    Was hier zu Kafka gesagt wird, weiß natürlich nur jemand, der Kafka und seine Schreibweise kennt. Das ist hier also eher eine kritische Darstellung und durchaus auch ein bisschen Ärger aus Lehrersicht.
    Als Schüler kann man diesen Teil weitgehend überspringen.
    Oder man schaut sich zum Vergleich die Parabel „Gib’s auf“ von Franz Kafka an, die wir am Ende einfügen.

    Nun also die Lehrersicht:
    Wer ein bisschen Kafka gelesen hat, dem kommt der Ton der folgenden Sätze sehr bekannt vor: „Was nützt es, den Schaffner zu fragen, wann die Zukunft beginnt? Wenn er Lust hätte zu antworten, trüge er dann einen Dienstrock? Ach, wie sinnlos gebärden die wenigen Mitreisenden sich, die aussteigen möchten. Schwiegen sie doch, lauschten sie nur: er pfeift, unser Fahrer. Den Mützenschirm auf die Nasenwurzel gedrückt, die Augen geschlossen und die Faust um die Lenkkurbel geballt, pfeift er aufs Bremsen, aufs Halten, auf alle Bedenken; nur dies ist sein Ziel: durch die Zukunft zu rasen, auf dass sie Vergangenheit werde.“
    Na ja, die letzten Worte klingen schon nicht mehr nach Kafka, auch das Folgende hätte er sehr viel konkreter ausgedrückt: „Mag sich darüber beschweren, wer willund zu dem folgenden Urteil hätte Kafka sich auch kaum aufgeschwungen. Das wäre ihm viel zu aufgesetzt gewesen: „Empörung grenzt auch nur an Mittäterschaft.
  • Inhalt 6:
    Dann der Schluss:
    „Nein; ich springe jetzt ab.“
    Ach, Wolfdietrich, möchten wir da sagen: Hast du dich da anregen lassen: „Halt die Welt an, ich will aussteigen“? Im Internet kann man die Wendung überall finden, die Herkunft, heißt es, sei unbekannt. Natürlich gab es zur Zeit der Entstehung von Schnurres Text noch kein Internet – von daher müssen wir zugeben: Da hat er schon einen Ton drauf, der erst später üblich geworden ist.
  • Aber es bleibt die Frage: Warum plötzlich „ich“? Was ist mit den anderen? Versucht man in einer solchen Situation nicht wenigstens, sich mit anderen zu verständigen? 
  • Vom Ärger zur Erkenntnis:
    Und vor allem: Wohin springst du? Und was heißt das? Hatten wir nicht gerade den Eindruck bekommen, dass es sich um eine bildhafte Geschichte handelt?
  • Ah, jetzt haben wir die Lösung: Der Erzähler wird im wahrsten Sinne des Wortes zum „Aussteiger“ – aus dem zunehmend schneller rasenden Zug der Zeit. Jetzt verstehen wir auch, warum sich alles immer schneller drehen musste und warum sich die Dinge teils verwischen, teils stürzen sie auf einen zu. Das heißt doch: Man kann sich gar nicht auf sie vorbereiten, wird eventuell sogar zu ihrem Opfer – wenn auch nicht direkt in diesem Zug – aber am Ende dürfte wohl doch ein Hindernis dieser rasenden Fahrt ein Ende machen. 
  • Fazit:
    Es hat sich gelohnt, kritisch mit dem Text umzugehen: Aus großem Ärger ist ein kleinerer geworden, nur noch auf Details bezogen und am Ende haben wir den Text und seine Botschaft durchaus verstanden.
  • Vom Schluss aus erscheint mancher frühere Erzählschritt in einem neuen Licht:
    Und auf der Basis dieses neuen Verständnisses konnten wir dann auch was mit den glänzenden Schienen anfangen, die man vom Zug aus zwar nicht sieht, die aber auf der bildhaften Ebene wohl für die Verlockungen des Fortschritts stehen. Und was die Häuserfronten angeht, die sich verwischen, so stehen die möglicherweise für die Geborgenheit der Wohnungen, die jetzt verlorengeht.
  • Also: Langer Rede schönes Ende: Ärger kann durchaus ein guter Anstoß sein für das Textverständnis, er ist allerdings kein guter Ratgeber. Genau hinschauen, nachdenken und eine faire Haltung gegenüber dem Autor – das muss schon sein.
  • Nachtrag 1 = Kafkas Parabel „Gib’s auf“ zum Vergleich
    Franz KafkaGibs auf!

    Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, dass es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: »Von mir willst du den Weg erfahren?« »Ja«, sagte ich, »da ich ihn selbst nicht finden kann.« »Gibs auf, gibs auf«, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.

    Wenn man das mit der Passage in Schnurres Parabel vergleicht, merkt man deutlich die Zurückhaltung Kafkas, was Hinweise zur Bedeutung des Textes angeht.

    Schnurre 1: „nur dies ist sein Ziel: durch die Zukunft zu rasen, auf dass sie Vergangenheit werde.“

    Schnurre 2: „Empörung grenzt auch nur an Mittäterschaft.“

    Solche Passagen gibt es in der Parabel von Kafka nicht.

  • Noch ein Nachtrag:
    Die Geschichte hat vom Ansatz her Ähnlichkeit mit der Parabel „Der Tunnel“ von Friedrich Dürrenmatt.

 

Weitere Tipps für Lehrer:

https://www.schnell-durchblicken.de/tipps-f%C3%BCr-schule-und-unterricht/

Dort gibt es zur Zeit die folgenden Einträge (Dies dient hier nur der Erst-Information, ist also auch nicht unbedingt mehr aktuell.)

Übersicht über die vorhandenen Tipps

Wir fangen mit der Übersicht jetzt erst mal an – bitte deshalb auch die Unterseiten betrachten.

 

  1. Mit 10 Fragen sich als Lehrer oder auch den Schülern das Leben angenehmer machen.
  2. Körpersprache: Bilder mit Sprechblasen versehen…
  3. Eine Ballade mit Kommentaren versehen – geht auch bei Geschichten und Gedichten!
  4. Sich einem längeren Text nähern, indem man Abschnitte mit markanten Überschriften oder Thesen versieht.
  5. Erfolgreich vom Elternsprechtag zu besseren Zeugnissen kommen
  6. FPZK: Fünf-Punkt-Zusammenfassungen als gute Möglichkeit, etwas zusammenzufassen
  7. Sich mit einem Direktprotokoll im Unterricht das Leben erleichtern
  8. Vereinfachung der Betreuung von Facharbeiten durch ein „Kommunikationsformular“
  9. Einhaltung von Regeln und Normen
  10. Tipps für die optimale Nutzung der Oberstufe
  11. Tipps für die Bekanntgabe von Themen, die in nächster Zeit zu besprechen sind (obligatorische Aufgabe für Lehrer)
  12. So „verkauft“ man als Schüler seine „Sonstige Mitarbeit“ optimal
  13. Tipps für die letzten Unterrichtsstunden vor einer Klassenfahrt
  14. Wiederholung von Stoff im Geschichtsunterricht mit Hilfe eines Rollenspiels (Beispiel: Novemberrevolution 1918)
  15. Grafische Verarbeitung von Texten
  16. Wie man direkt am Bildschirm einen langen Word-Text zu einer anschaulichen Powerpoint-Datei verarbeiten kann
  17. Was tun, wenn Schüler auffällig oft aufs Klo wollen … einfach mal die „Nudge“-Theorie nutzen
  18. Wie man aus einer stressigen Klausurbesprechung eine Win-win-Situation macht mit dem Ziel dauerhaften Aufbaus von Kompetenzen
  19. Tipps zum richtigen Verhältnis von Lehrerinstruktion und Schüleraktivität
  20. Tipps für Lehrer, was die optimale Vorbereitung ihrer Schüler auf die mündliche Abiturprüfung angeht
  21. Früchte des Zorns – oder: Wie spontaner Ärger zu einem guten Anstoß für den Deutschunterricht werden kann

Wer noch mehr möchte …